Das Bildnis im 19. Jahrhundert

Mit 130 Abbildungen im Text und 24 zum Teil mehrfarbigen Tafeln
Autor: Waldmann, Emil Dr. (1880-1945) Kunsthistoriker und Direktor der Kunsthalle Bremen, Erscheinungsjahr: 1921
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Kunst, Kultur, Geschichte, Malerei, Maler, Bildnis, Modell, Fotografie, Bildniskunst, Porträt, Bildnismaler, Darstellung, Künstler, Porträtkunst
Die Bildnisse, die ein Jahrhundert den nachfolgenden aufbewahrt, werden für die historische und kulturhistorische Neugier der späteren Generationen zu einem Spiegel, in dem sich das Menschentum dieses Jahrhunderts in tausendfältigem Antlitz betrachten und prüfen lässt. Denn die Bildnisse von Menschen, gleichviel ob sie damals, als sie gemalt wurden, mit der Absicht objektiv ruhiger Wiedergabe einer Existenz geschaffen wurden oder ob sie mit dem Bewusstsein entstanden, die persönliche Deutung eines Menschendaseins zu geben — auf die Länge der Zeit sagen sie doch etwas Eindeutiges und Wesentliches aus über die Art des Menschen, der da Modell saß. Wenn die Unterschiede in den persönlichen Auffassungen der Künstler und im gesellschaftlichen Stande des Dargestellten vor dem Überblick der Geschichte mit der Zeit ebenso unwesentlich geworden sind wie etwa die Verschiedenheiten in Mode, Tracht und Kostüm, dann kommt plötzlich hinter der verwirrenden Vielheit des Individuellen doch wieder der Mensch dieses Jahrhunderts heraus. Eine Bildnis-Galerie verschweigt nichts. Und das Jahrhundert wird vor den Augen der Nachwelt am besten bestehen, in dem im Bereiche der Kunst die Bildnis-Malerei als ein ernster, hoher Kunstzweig und nicht etwa als eine niedere Gattung der Kunst angesehen wurde. Wenn wir heute beispielsweise von der Kultur des bürgerlichen Holland des 17. Jahrhunderts, die doch immerhin nur eine wenn auch sehr glückliche Episode darstellte, so hoch denken, so wird dies nicht zum geringsten der Tatsache verdankt, dass damals die Bildnis-Malerei eine Hochblüte erlebte. Wir kennen diese Männer und diese Frauen, einzeln sowohl wie in ihrem gesellschaftlichen Zusammensein, aus Tausenden von Bildern. Wir stehen unter dem Eindruck dieses Menschentums, das starke typische Züge aufweist, und diesem Eindruck von Stärke können wir uns nicht entziehen. Das kommt, weil diese Gesellschaft die Künstler, die ihr Abbild auf die Nachwelt brachten, nicht nur fand, sondern weil sie die Künstler auszunützen, sie zu beschäftigen, ihnen Aufgaben zu stellen verstand.

Mail kann nicht sagen, dass jede Zeit, jedes Land und jede Gesellschaft die Porträtmalerei hat, die sie verdient. Dies würde ein ungerechtes Verkennen der Tatsachen bedeuten. Wäre es so, dann müsste man folgern, dass das Menschentum des 19. Jahrhunderts ein minderwertiges und unbedeutendes gewesen wäre. Denn die allgemeine Bildnismalerei dieses 19. Jahrhunderts kann es an Stärke des Eindrucks und Hohe des Niveaus nicht einmal mit der Porträtkunst, wie sie in England und Frankreich im 18. Jahrhundert blühte, aufnehmen, geschweige denn sich mit der Bildniskunst des 17. Jahrhunderts in Holland vergleichen. Und doch war sicher das Menschentum des 19. Jahrhunderts nicht weniger bedeutend und interessant, klug und stark als das vorhergegangener Epochen. Woher kommt dann aber das ungünstige Bild, das man von ihm gewinnen müsste, wollte man seine Rückschlüsse nur von dem Niveau der üblichen Bildnisse ableiten?

Es liegt einmal an etwas unglücklichen gesellschaftlichen, wesentlich aber an sehr unglücklichen Kunstzuständen.

Gesellschaftlich genommen fehlte es im 19. Jahrhundert, dem Erbe der umwälzenden französischen Revolution, an einer festen Gesellschaft, die als solche Tradition besessen hätte; besonders in Frankreich und Deutschland. Das 19. Jahrhundert ist ein vorwiegend bürgerliches Zeitalter, und zwar empfing es seine kulturelle Signatur von einem Bürgertum, dessen Schichten nicht aus vorbereitetem Kulturboden stammten, sondern in sehr starkem Maße aus Neuland, Schichten, die immer wechselten und durch ihre starke soziale Bewegung sowohl nach oben wie nach unten abfärbten. Es war ein Bürgertum, das seine kulturellen Aufgaben noch nicht kannte und insbesondere nicht wusste, was es mit der edlen Pflicht der Kunstpflege anzufangen hatte.

Künstlerisch genommen ermangelte diese Epoche der Tradition. Sie hatte von vorne zu beginnen fast mit allem. Da die großen, von einer ihrer selbst sicheren Gesellschaft gestellten Aufgaben fehlten, mussten diese Aufgaben erst geschaffen werden, und wo früher die ruhige Überlieferung die Wege wies, herrschten Willkür und Experiment. Die Kunst erschien zwecklos und musste sich ihre Daseinsberechtigung erst erkämpfen, und um dies zu können, musste sie neue Formen schaffen. Ein neues Weltgefühl und ein neues Naturgefühl waren im Entstehen. Dies auszudrücken, konnten die alten Formen der Kunst nicht mehr genügen, und erst als die ganze geistige Signatur des neuen Jahrhunderts sich klarer herauszuarbeiten begann, als um die Mitte des Jahrhunderts etwa die Anzeichen dafür erkennbar wurden, wohin die Reise gehen sollte, fand auch die Kunst ihre neuen schöpferischen Wege. Die Romantik der Franzosen mündete ein in die Richtung, die man den Impressionismus nennt, deutsches Nazarenertum führte zu Feuerbachscher und Maréesscher Stilgröße, und der nüchterne deutsche Realismus, der im Anfange des Jahrhunderts weitverzweigt und allerorten, anfangs schüchtern, sein Recht verlangte, erlebte in Menzel und Leibl eine Blüte, wie sie zu Goethes Lebzeiten für undenkbar wäre gehalten worden.

In allem Unglück verbirgt sich immer auch ein wenig Glück. Als im Beginn der neuen Epoche, vornehmlich in Deutschland, infolge politisch und wirtschaftlich besonders ungünstiger Lebensumstände die Kunst nicht so recht wusste, wohin mit sich, als man sich aus der Not der Zeit einmal wieder ins Ideale und Gedankliche retten wollte und hierbei den gesunden Boden alles Kunstschaffens, die Wirklichkeit, fast ganz verlassen hatte, blieb ein Kunstgebiet wenigstens bestehen, auf dem man die Realität wohl oder übel nicht vermeiden konnte: das Bildnis. Mochten die Klassizisten von griechischer Idealwelt träumen, die sie trotz Carstens und Genelli nicht verwirklichen konnten, mochten die Nazarener den großen Stil mit fremden Formen suchen, weil ihnen zur Schaffung eigener Formen so Anschauung wie Blut fehlten, — wenn sie Menschen darstellten, wenn sie Porträts malten, mussten sie sich, was sie sonst nicht gern taten, mit der Wirklichkeit, mit dem Gegebenen, mit der Sichtbarkeit der Dinge beschäftigen.

Und so erleben wir das merkwürdige Schauspiel, dass eine Zeit, die, als Ganzes genommen, gegen andere Jahrhunderte zurückstellt an Niveau der Bildniskunst, in ihren Anfängen eigentlich doch nur durch ihre Leistungen auf diesem Gebiete Gesundes und Großes hervorgebracht hat. Wäre sie in ihrem weiteren Verlaufe bescheiden geblieben, hätte sie sich genügen lassen mit dem hier Erreichten und dies nur mit fortschreitendem Können ausgebaut, so stünde die Menschlichkeit des 19. Jahrhunderts stärker und großartiger vor dem Auge der Nachwelt, als sie tatsächlich steht. Aber in schicksalsschweren Stunden fand die Kunst diese Kraft der Erkenntnis und der Selbstbescheidung nicht und jagte anderen, vermeintlich höheren Zielen nach. Sie verleugnete ihre guten Anfänge, und als sie äußerlich zu Glück und Ansehen gekommen war, vertat sie leichtfertig ihr kleines, aber anständiges Erbe. Als die Malerei des 19. Jahrhunderts in den sechziger und siebziger Jahren in Frankreich wie in Deutschland eine Blütezeit erlebte, war ein Niveau der Bildnismalerei, das als solches eine absolute Macht dargestellt hätte, nicht vorhanden. Bismarck ist nicht von Leibl gemalt worden, und alle die Großen dieses bedeutenden Geschlechts in Militär- und Gelehrtenwelt, in Industrie und Kaufmannschaft fanden nicht die Porträtisten, die dieses Geschlechtes würdig waren. Sie fanden sie nicht, trotzdem diese Porträtisten da waren und das Höchste hätten leisten können, wenn nur die großen Aufgaben wären gestellt worden.

Die ganz große Kunst hat schließlich keinen Schaden dabei gelitten. Sie setzt sich immer durch gegen alle Ungunst der Zeiten und tut, was sie muss. Aber die allgemeine Kultur litt Schaden dabei. Die Menschen des 19. Jahrhunderts winden vor der Nachwelt bessere Figur machen, wenn die Verhältnisse ähnlich gelegen hätten wie im Holland des 17. Jahrhunderts. Und die Formen der äußeren Kultur wären noch im 19. Jahrhundert selbst sicherer und fester gewesen, wenn uns eine Generation großer Bildnismaler und ihr unvermeidlicher kleinerer Anhang täglich und stündlich gezeigt hätten, wie man aussieht. Denn man selber weiß ja nicht, wie man aussieht. Wenigstens seit Verbreitung der Photographie weiß man es nicht mehr.

Die Photographie hat die Menschen an zwei Dinge gewohnt, die als die ärgsten Feinde der Bildniskunst anzusehen sind: an Schmeichelei und an Zufall. Die Leute, die zum Photographen gehen und ihr Konterfei in vielen Exemplaren bestellen, um es ihren Freunden und Freundinnen zu verehren, wollen ein Bild haben, das zugleich vorteilhaft und ähnlich ist. Vorteilhaft, das heißt gefällig, und ähnlich, das heißt so, wie der betreffende Mensch in dem betreffenden Augenblicke in dem bestimmten gleichmacherischen Lichte des Ateliers gerade aussah. An die Stelle des Charakteristischen trat die glatte, alle Runzeln und Falten, alle Hässlichkeiten wegretuschierende Schönheit, und an die Stelle des Wesenhaften, das der Künstler früher in vielen Sitzungen langsam aus seinem Modell herausstudierte, trat das Festhalten eines Äußerlichen, des zufälligen Augenblicks mit seinem zufälligen, momentanen So-und-so-Aussehen. Diese Gewöhnung wirkte für eine, ja für zwei Generationen verheerend auf das Niveau der Bildniskunst ein. Was die Menschen vom Photographen verlangten und widerstandslos von ihm bewilligt bekamen, verlangten sie stillschweigend und halb unbewusst auch vom Bildnismaler, sofern sie, bei besonders feierlichen Anlässen, überhaupt noch den Weg zu ihm fanden. Es gab Zeiten in Deutschland, wo der Bildnismaler sich von den Brocken nährte, die von des reichen Photographen Tische fielen. Lichtwark erzählt einmal, dass in den neunziger Jahren die Stadt Hamburg mit ihren damals 700.000 Einwohnern mehrere Dutzend Photographen zum Teil in den allerglänzendsten Verhältnissen ernährte und dass sie zu der gleichen Zeit nicht zwei Bildnismaler von Ruf und Bedeutung beherbergte. Der Glaube eines im wesentlichen wissenschaftlich-technisch gesinnten Zeitalters an die Wahrheit und Objektivität der Maschine war so groll und so überzeugt, dass er meinte, für das Bild des Menschen der Phantasie des Künstlers entraten zu können.

So darf man nicht überrascht sein, bei einem Durchmustern des Porträtbestandes im 19. Jahrhundert die Wahrnehmung zu machen, dass in der ersten Hälfte dieser Epoche das Niveau der Bildniskunst ein weitaus höheres und künstlerischeres ist als in der zweiten Hälfte, in welche die Verbreitung der Photographie fällt. In den dreißiger und vierziger Jahren schufen Maler von mittlerer Bedeutung und durchaus nicht sehr starkem künstlerischen Charakter Bildnisse von trefflichem Können, guter Haltung und bemerkenswerter Auffassung. Dreißig Jahre später ist das Niveau, das von Künstlern ebenso zweiten und dritten Ranges bestritten wird, um eine Unendlichkeit gesunken. Ödes Schema und manchmal geschickte, manchmal talentlose Äußerlichkeit herrschten. Bildnisse von menschlicher und künstlerischer Bedeutung werden nur noch von ganz großen Künstlern gemalt, nebenher, ohne Publizität, ohne die Teilnahme der Öffentlichkeit, manchmal gegen den Willen der Öffentlichkeit; bisweilen sogar aus Trotz und künstlerischem Selbsterhaltungstrieb. Es kann sehr nachdenklich machen, wenn man sieht, dass auch bei diesen ganz großen Künstlern etwa der siebziger und achtziger Jahre fast immer die Bildnisse ihrer Eltern oder ihrer Frauen, ihrer Brüder oder ihrer intimsten Freunde am besten geraten, also jene Aufgaben, die mit der weiteren Öffentlichkeit zunächst nichts zu tun haben, während unter den bestellten Porträts doch manche gleichgültige Leistung mit unterläuft. Zu sagen, dass dies bei aller Bildnismalerei der natürliche Vorgang sei, weil nun einmal das Bildnismalen eine Angelegenheit der Intimität sei, wäre ein feiger Trost. Es gab Zeiten, wo solche Intimitätsverhältnisse auch der Öffentlichkeit gegenüber als eine Selbstverständlichkeit möglich waren. Diese Verhältnisse herzustellen, diesen Konnex zwischen Künstler und Publikum zu schaffen, ist ja gerade eine der kulturellen Aufgaben der Bildniskunst, an der beide Teile, Künstler wie Publikum, mitarbeiten müssen. Nur so kann sich das Niveau wieder heben, und für den Gesamteindruck entscheidet nun einmal das Niveau. Heute liegen die Verhältnisse nachgerade so, dass das Niveau der Photographen höher ist als das der Durchschnittsmaler im Bildnisfach. Die Photographen lernten einsehen, dass es mit ihrer Herrlichkeit nicht in alle Ewigkeit weiterdauern würde, wenn sie sich nicht den Anforderungen einer kritischeren, sich ihrer Mängel bewusst gewordenen Zeit fügten, und so haben sie alles, was am Bildnis äußerlich ist, Arrangement, Haltung, das Standesgemäße und sozialen Takt, an sich gerissen und zu ihrer eigentlichen Domäne gemacht. Während die jungen Maler des 20. Jahrhunderts bei ihren Bildnissen rein künstlerisch-dekorativen Farbenproblemen nachjagen und darüber die Darstellung, die Erfassung des Menschen und der Persönlichkeit vergessen, haben die Berufsphotographen, nach anfänglichem Vorgang kultivierter Amateure, gelernt, alles, was an der Bildniskunst äußerlich ist, mit Geschmack und Takt zu handhaben. Sie wissen jetzt aus Erfahrung, wie man einen Menschen hinstellt oder hinsetzt, wie man sein Bild im Rahmen abschneidet und ins Quadrat bringt, für was für Köpfe scharfes und für was für Gesichter weiches Licht sich am besten eignet. Kurz, die Dinge, die früher der Bildnismaler als untergeordnete Elemente seines Metiers im Handgelenk hatte und die der Bildnismaler von heute im allgemeinen nicht mehr kennt, sind Eigentum der Berufsphotographen geworden. Dies gilt es für die Kunst wieder zu lernen und wieder zu erobern. Erst dann kann die Bildnismalerei wieder auf ein gesundes Fundament gestellt werden, das sich dann zu einem achtbaren Niveau hinaufentwickeln lässt. Man soll es nicht überschätzen, darf es aber auch nicht unterschätzen. Niveau ist immer nur Durchschnitt, nicht mehr, nie das ganz Große. Aber das gute Niveau muss da sein. Denn für den Eindruck einer Kultur entscheidet nicht die einzelne geniale Leistung, sondern das Niveau, das allen zugänglich ist. —

Goethe sagt einmal in den Wahlverwandtschaften: „Man ist niemals mit einem Porträt zufrieden von Personen, die man kennt. Deswegen habe ich die Porträtmaler immer bedauert. Man verlangt so selten von den Leuten das Unmögliche, und gerade von diesen fordert man’s. Sie sollen einem jeden sein Verhältnis zu den Personen, seine Neigung und Abneigung mit in ihr Bild aufnehmen; sie sollen nicht bloß darstellen, wie sie einen Menschen fassen, sondern wie jeder ihn fassen würde. Es nimmt mich nicht wunder, wenn solche Künstler nach und nach verstockt, gleichgültig und eigensinnig werden."

Goethe redet hier vom Durchschnittskünstler. Der allerdings wird verstockt und gleichgültig, und die Zeit, die auf Goethe folgte, lieferte Beispiele für seine Behauptung in Hülle und Fülle. Der wahrhaft bedeutende Künstler, der ganz große Künstler aber (Goethe kannte keinen) setzt sich über die Hemmungen und Widerstände hinweg, die ihm vom Publikum kommen. Mögen die Leute seine Bildnisse nicht ähnlich finden und sich immer an den bekannten unbekannten Zug halten, den jedes künstlerische Bildnis aufweist, er, aus der Tiefe seiner künstlerischen Erkenntnis heraus, weiß, dass Ähnlichkeit etwas sehr, sehr Relatives ist. Er weiß, dass jeder Mensch viele Gesichter hat und sich selber sehr selten ähnlich ist, dass es eine normale Ähnlichkeit im tieferen Sinne, im Ausdruckssinne, überhaupt nicht gibt. Denn der Charakter und die Seele, für die des Menschen Körperlichkeit doch nur die Ausdrucksform bedeutet, sind keine einheitliche Größe und keine gerade Zahl. Charakter und Seele sind etwas vielfach Zusammengesetztes, das Resultat aus dem Gegeneinanderarbeiten von verschiedensten, ja von gegensätzlichsten Eigenschaften. Jeder Mensch ist zugleich gut und böse, klug und dumm, lebhaft und phlegmatisch, heiter und melancholisch von Anlage, und was Charakter und Seele aus diesen Urstoffen geformt haben, macht das eigentliche und wahre Wesen dieses Menschen aus. Die äußere Erscheinung mit all ihren Hauptsachen und all ihren Nebensachen so zu durchschauen, so mit dem Blick, zu zerstören und wiederaufzubauen, dass dieses eigentliche, zu tiefst liegende Wesen in seinen entscheidenden Akzenten gedeutet wird, darin besteht das letzte Ziel der großen Porträtkunst. Bildnismalen in diesem Sinne ist ein Zwiegespräch zwischen zwei Seelen, zwischen der Seele des Künstlers und der Seele seines Modells. Ein Mensch, so angeschaut und so gedeutet, mag anders aussehen, muss anders aussehen, als seine Bekannten ihn kennen. Kein Mensch, auch der offenste und der lebhafteste nicht, enthüllt in seinem Äußeren sein wahres Wesen, das er oft genug selbst nicht kennt. Der große Künstler allein, der sich mit seinem Blick, seinen Gedanken und seinem Gefühl hindurchbohrt durch die Formen seines Antlitzes und sich hineinwühlt in das Reich jener Kräfte, die solches Antlitz formten, entschleiert dieses wahre Wesen, bis alle Hüllen gefallen sind und bis er diesen Menschen so durch und durch kennt, als hätte er einen Shakespear’schen Monolog über ihn gehört. Kennt er ihn so, dann kann er die wesentlichen Züge dieses Gesamtbildes, das seine Phantasie sich von ihm machte, zusammenfassen und zur Wirkung bringen und diese Wirkung durch Weglassen alles Nebensächlichen steigern.

Dies und dies allein ist das, was man vernünftigerweise Idealisieren nennt. Und nur durch dieses Idealisieren kann es gelingen, die Formen eines Gesichtes und alles Äußeren, was zu einem Menschen gehört, für den Beschauer lebendig zu machen. Man darf sich nicht täuschen lassen durch Leibls berühmtes Wort, mit dem er das allzu bewusste Streben nach Psychologie abwehrte: „Wenn ich nur den Menschen so male wie er ist, so ist ohnehin die Seele mit dabei.“ Das könnte aussehen wie eine Verherrlichung der Objektivität und des getreulichen, geduldigen Abmalens der Naturformen. Aber wenn Leibl mit seiner unermüdlichen Geduld in wahrer Galeerensklavenarbeit die äußeren Formen nur abzumalen meinte, innerlich war doch seine malerische Phantasie am Werke. Denn während er malte, deutete er ja diese Formen in seinem Sinne um, und er malte eigentlich und in Wirklichkeit das distanzierte Bild nach, das er sich von der Erscheinung innerlich machte. Die psychologische Deutung eines Menschen kann bei großen Künstlern immer nur ein halb unbewusster, mindestens aber ein unbeabsichtigter Akt sein. Wenn einer einen Menschen malt und weiß von vornherein: Das ist ein Sanguiniker, den male ich also sanguinisch, dann wird nur eine Grimasse daraus. Das wahre Wesen enthüllt sich erst während der Arbeit, die vom Gegebenen, der äußeren Erscheinung des Modells, erst ganz langsam in die Tiefe vorschreitet. Trübner nannte das Porträt den „Parademarsch der Malerei“ in einem etwas grotesken, aber aufschlussreichen Vergleich. Wer nicht mit dem einfachsten Können beginnt, meinte er, wer nicht sein ganzes erworbenes Können zusammenrafft, um zunächst einmal mit dem Sichtbaren fertig zu werden, geht den falschen Weg. Mit dem Geistigen und Seelischen kann man nicht anfangen, sondern man muss damit aufhören, und das Stück Karikatur, das nach Ingres Wort in jedem guten Porträt stecken soll, darf nur den Mitlebenden, die das Porträt zum ersten Male sehen, bewusst werden.

Denn ein Bildnis muss zunächst ein Kunstwerk sein, es muss ein „Bild“ sein und unterliegt damit genau den gleichen Gesetzen wie jedes andere schöpferische Kunstwerk auch, den Eigengesetzen des Bildes. Die Leute, die Frans Hals malte, sind uns, abgesehen von unserer kulturhistorischen Neugier, oft recht gleichgültig, und es waren ja nicht alles bedeutende oder auch nur interessante Menschen, die er zu malen bekam. Weil es große Kunstwerke sind, interessieren sie uns dennoch so lebhaft. Weil hier ein Stück Natur groß angesehen und groß stilisiert wurde. Die machtvolle Darstellung des Formenlebens, so, dass die entscheidenden Formen auch entscheidend sprechen, die Lebendigkeit eines Ausdrucks, ganz gleich, was dieser Ausdruck uns enthüllt, die anregende und zwingende Gestaltung des Bildraumes mit seiner Luft und seiner liefe, die wirksamen Beziehungen zwischen Körperlichkeit und Fläche, die Schönheit des Lichtes und der Reichtum der Farbenharmonien bei lebhaftem oder monotonem Kolorit — diese Eigenschaften, diese Umsetzung und Ordnung der Elemente des Natureindrucks machen den großen Wert seiner Gemälde aus, Eigenschaften, die an sich betrachtet ebensogut zu einem Genrebild, einer Historie oder einer Landschaft gehören können und gehören müssen, wenn das Genre oder die Landschaft gut sein sollen. Diese Probleme stehen im Vordergrunde des Bewusstseins beim schaffenden Künstler. Bewältigt er sie, so wird sein Bild gut, und ist sein Bild ein Porträt, so steigert die realisierte Kunstform ganz von selbst die Bedeutung des Modells auch in geistiger Beziehung, sofern der große Künstler, was fast immer zutrifft, zugleich auch ein großer Seelenkenner ist. Wäre es nicht so, so ließe sich die oft bemerkte Tatsache nicht erklären, dass gerade die menschlich ergreifendsten Bildnisse nicht immer von Spezialisten des Porträtfachs gemalt wurden. Leonardos Mona Lisa und Rafaels Castiglione, Tizians Mann mit dem Handschuh, Tintorettos Dame in Trauer und Grecos Großinquisitor, Dürers Melanchthon und Rembrandts Greis mit den zusammengelegten Händen stehen doch noch menschlich um einen Grad höher als auch die besten und tiefsten Schöpfungen von Velazquez, Holbein und Frans Hals.

Auch im 19. Jahrhundert wurden die hervorragendsten Bildnisse von den ganz großen Malern der Zeit geschaffen, von Nichtspezialisten, von denen, deren Ruhm erst nach ihrem Tode oder in ihrem Alter ganz lebendig geworden ist. Die größte Zeit der Malerei fiel, wenigstens in Deutschland, in die zweite Hälfte des Jahrhunderts, gerade in jene Periode also, in der die anfangs schädigenden Einflüsse der Photographie sich besonders fühlbar machten und die außerdem der Menschendarstellung an sich etwas abhold war, weil damals die Landschaftsmalerei die Führung übernahm. Die Landschaftskunst als solche, als das Gebiet des Individualitätslosen, neigt gern dazu, die menschliche Gestalt zu vernachlässigen, und so kann man sagen, dass alle wirklich großartigen Bildnisse der Zeit als Gelegenheitsarbeiten entstanden. Erst um die Jahrhundertwende machten sich Anzeichen dafür geltend, dass sich langsam wieder eine Tradition im Bildnis entwickeln könnte. Oh die modernste Kunst hierzu imstande sein wird, muss erst die Zukunft lehren.


                              Inhalt

      Einleitung
      Das Erbe des 18. Jahrh. und die klassizistische Repräsentation
      Das Bildnis der Romantik
      Nazarener und Realisten
      Der moderne Realismus und das malerische Problem
      Das Bildnis des Impressionismus
      Die Monumentalität im Bildnis
      Maske und Seele
      Das moderne Gesellschaftsporträt
      Die Grundlagen des 20. Jahrhunderts
      Register

T001 Wilhelm Leibl, Gräfin Treuberg

T001 Wilhelm Leibl, Gräfin Treuberg

001  Friedrich August Tischbein, Königin Luise

001 Friedrich August Tischbein, Königin Luise

002 Anton Graff, Knabenbild

002 Anton Graff, Knabenbild

003 Heinrich Füger, Selbstbildnis

003 Heinrich Füger, Selbstbildnis

004 Joahann Baptist de Lampi d. Ä., Kaiserin Maria Feodorowna

004 Joahann Baptist de Lampi d. Ä., Kaiserin Maria Feodorowna

T002 Jean Dominique Ingres, Mme. Rivière

T002 Jean Dominique Ingres, Mme. Rivière

005 Jacques Louis David, Mme. Récamier

005 Jacques Louis David, Mme. Récamier

006 Antonio Ganova, Paolina Borghese

006 Antonio Ganova, Paolina Borghese

007 Gottlieb Schick, Danneckers erste Gattin

007 Gottlieb Schick, Danneckers erste Gattin

008 Théodore Chassériau, Die beiden Schwestern

008 Théodore Chassériau, Die beiden Schwestern

009 Gottfried Schadow, Doppelstatue

009 Gottfried Schadow, Doppelstatue

T003 Eduard von Steinle, Karoline

T003 Eduard von Steinle, Karoline

010 Josephe Chinard, Mme. Récamier

010 Josephe Chinard, Mme. Récamier

011 Gottfried Schadow, Elert Bode

011 Gottfried Schadow, Elert Bode

012 Christian Rauch, Büste einer Dame

012 Christian Rauch, Büste einer Dame

013 Philipp Otto Runge, Der Künstler mit Frau und Bruder

013 Philipp Otto Runge, Der Künstler mit Frau und Bruder

014 Philipp Otto Runge, Die Hülsenbeckschen Kinder

014 Philipp Otto Runge, Die Hülsenbeckschen Kinder

015 Philipp Otto Runge, Die Heimkehr, Handzeichnung

015 Philipp Otto Runge, Die Heimkehr, Handzeichnung

016 Eugène Delacroix, Paganini

016 Eugène Delacroix, Paganini

017 Ingres, Paganini, Zeichnung

017 Ingres, Paganini, Zeichnung

018 Honoré Daumier, Hector Berlioz

018 Honoré Daumier, Hector Berlioz

019 Gerhard von Kügelgen, Goethe

019 Gerhard von Kügelgen, Goethe

021 Johann Friedrich Overbeck, Familienbild des Künstlers

021 Johann Friedrich Overbeck, Familienbild des Künstlers

022 Eduard von Steinle, Des Künstlers Töchterchen Karoline

022 Eduard von Steinle, Des Künstlers Töchterchen Karoline

023 Moritz von Schwind, Die Kinder Schnorrs v. Carolsfeld

023 Moritz von Schwind, Die Kinder Schnorrs v. Carolsfeld

024 Philipp Veit, Freifrau von Bernus

024 Philipp Veit, Freifrau von Bernus

025 Julius Asher, Jenny Lind

025 Julius Asher, Jenny Lind

026 Julius Hübner, Die Maler Lessing, Sohn und Hildebrand

026 Julius Hübner, Die Maler Lessing, Sohn und Hildebrand