DIE OKTOBERPOGROME 1905 - I. Gouvernement Bessarabien. Kischinew

Aus: Die Judenpogrome in Russland
Autor: Redaktion A. Linden, Erscheinungsjahr: 1910
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Juden, Judentum, Ostjuden, Einwanderung, Einwanderer, Deutschland, Russland, Polen, Progrome, Gewalt, Krieg, Vertreibung, Wohnungsnot, Gründe, Not, Elend, Arbeitsplätze, Flüchtlinge, Solidarität, Glaubensfreiheit, Religion, Nächstenliebe, Wahrheitsliebe, Berichterstattung, Medien, Wahrheit, Öffentlichkeit, Kultur, Parteien, Gerechtigkeit
Kischinew
Gesamtbevölkerung (1897)) 108.483, Juden 50.237.

Schon der Name von Kischinew ist ein Symbol. Wenn man von Mord- und Schandtat, von Vergewaltigung, Marterung Schwacher, von einer besonders blutigen und grausamen Judenschlächterei, die von einem Haufen entmenschter Berufsmörder nebst den sich anschließenden Exzedentenmassen unter dem Patronate der Regierung zum Entsetzen der ganzen Welt inszeniert wird, spricht, so schwebt jedem der Gedanke an Kischinew vor Augen. Dieser Stadt war es beschieden, den blutigen Reigen der neuesten Judenpogrome zu eröffnen. Das Beispiel von 1903 hat gewirkt. Die Organisatoren der Pogrome sahen, dass ihr Werk „wohlgefällig" sei, und schöpften Mut zu weiteren Taten.

Und als das Freiheitsmanifest kam, dem die Pogrome auf den Fuß folgten, blieb auch Kischinew hinter den übrigen Städten nicht zurück — und als das Zeichen von der Pogromzentrale kam, da. war es den Kischinewer Hooligans ein Leichtes, in einigen Stunden einen Pogrom nach allen Regeln der Kunst zu arrangieren. Die Lage für die Juden in Kischinew wie in Bessarabien im allgemeinen ist eine möglichst ungünstige. Eine stumpfe, schwerfällige, leicht zu bestialisierende Bauernmasse auf dem flachen Lande, die zum großen Teil aus Moldauern besteht, in den Städten ein Konglomerat von Moldauern, Griechen, Armeniern und russischen Beamten, welche nur äußerlich von Kultur beleckt und durch allerlei Laster und schließlich durch die Zugehörigkeit zur „russischen Patriotenliga" miteinander verbunden sind. Dementsprechend rekrutierten sich die Hauptschuldigen am Kischinewer Pogrom von 1903 aus den verschiedenen Völkerschaften: es waren der Moldauer Pavolaki Kruschewan, der Grieche Sinadino und der Russe Pronin. Trotzdem diese edlen Herren in den Gerichtsverhandlungen der Aufreizung zum Morde und sogar der direkten Teilnahme am Pogrom überführt waren, verblieben sie dennoch in angesehensten Stellungen und behielten die Leitung der Stadtverwaltung von Kischinew in ihren Händen. So gelang es Sinadino (der zusammen mit dem blutbefleckten Kruschewan in der zweiten Duma, saß) sogar, Bürgermeister der Stadt zu werden, während Pronin eine Ehrenstellung als Stadtältester einnahm. Man kann sich nun leicht vorstellen, wie diese Stadtverwaltung durch ihre Maßnahmen die Juden drangsaliert, mit welchem Eifer sie den Hass der christlichen Bevölkerung gegen die Juden geschürt hat. Ein kleines Beispiel, das die Beziehungen des Magistrats zu den Juden kennzeichnet, möge angeführt werden. In Kischinew gibt es eine öffentliche Lesehalle, die zwar aus jüdischen Mitteln erhalten und von Juden hauptsächlich besucht wird, aber dem Magistrat, wo die Juden nicht vertreten sind, untersteht. Um nun die Juden zu schikanieren, erließ der Magistrat eine Verordnung, wonach die Lesehalle am Samstag geschlossen sein müsse, um der Dame, die der Bibliothek vorsteht und christlich-antisemitisch ist, gerade diesen Tag zur Ruhe zu gewähren. Alle Einwendungen der Juden, dass ja der Samstag der am meisten zum Lesen geeignete und für sie einzig freie Tag sei, fruchteten nichts. Diese und ähnliche Schikanen erbitterten die Juden und hetzten die übrige Bevölkerung, die die Juden so schutzlos sah, zu Gewalttaten auf. Die Regierungsbehörden waren um kein Haarbreit judenfreundlicher. Der liberale Gouverneur Fürst Urussow, der später in der ersten Duma seine berühmten Enthüllungen machte, trug seinerzeit, nach dem Pogrom von 1903, zur Beruhigung der Stadt bei, indem er das blutrünstige, judenhetzerische Blatt von Kruschewan, „Bessarabetz", einstellte und auch sonst die Wiederherstellung der guten Beziehungen zwischen Juden und Christen anstrebte. Aber Urussows Liberalismus fand in Petersburg keinen Gefallen, und an seine Stelle kam der Gouverneur Charusin, ein hinterlistiger, beschränkter Mensch, durch und durch ein Mann der ,,Schwarzen Hunderte". Eine seiner ersten Leistungen war die Rehabilitierung Kruschewans. Er brachte es durch seine persönliche Fürsprache in Petersburg dahin, dass diesem die Gründung einer neuen Zeitung (,,Drug" — „Der Freund") gestattet wurde. Die Zeitung hatte ein ausgesprochenes Programm und ein einziges Ziel: die Pogromagitation.

Die christliche Bevölkerung von Kischinew ist zum größten Teil reaktionär. Es gibt zwar Christen, die in den freiheitlichen Parteien stehen, wie z. B. in der konstitutionell-demokratischen, es gibt auch einzelne bekannte Persönlichkeiten, die sehr radikal und judenfreundlich sind, so z. B. die Ingenieure Kusch, Wlassow, Bürgermeister a. D. Schmidt u. a., aber sie bilden eine verschwindende Minderheit. Der größte Teil der Christen in Kischinew steht im reaktionären Lager, in der Partei der Rechtsordnung oder der Patriotenliga. Diese Liga, ein Geisteskind Kruschewans, ist offiziell im März 1905 ins Leben gerufen worden, wobei ihr der Gendarmerierittmeister Wassiljew Pate stand. Punkt 2 des Programms dieser Liga besagt, dass „die Mitglieder der Liga die Revolutionäre auf den bloßen Verdacht hin der Polizei ausliefern, in den Massen den Hass gegen die Revolutionäre und die Juden schüren sollen". Bezeichnend ist es auch, dass in diese Liga mit Vorliebe Leute aufgenommen wurden, die nicht einmal den minimalen Mitgliederbeitrag (20 Kopeken) zahlen konnten, wenn man von ihnen annehmen durfte, dass sie sich nützlich erweisen würden, d. h. wenn sie für Pogrome zu haben seien. Diese „Ligisten" übten sich schon lange vor dem Ausbruch des Pogroms in ihrer Tätigkeit, indem sie häufig Juden überfielen und misshandelten und auch in Privathäuser einbrachen.

Die jüdische Bevölkerung in Kischinew ist politisch nicht organisiert. Die verschiedenen Parteien, die sonst im jüdischen Leben eine Rolle spielen, sind hier spärlich vertreten. Am stärksten unter ihnen sind der „Bund" und die Zionisten der verschiedenen Richtungen, während die meisten Juden zur K.-D. Partei gehören. Indes trotz der gemäßigten politischen Gesinnung der Juden behandelten sie die Behörden durchgängig als Revolutionäre, und der Gouverneur Charusin warnte gewöhnlich die jüdischen Abordnungen, die bei jedem Auftauchen eines Pogromgerüchtes regelmäßig bei ihm erschienen: „Zügelt eure Jugend, sonst wird's schlimm werden!"

In einer solchen Atmosphäre des Hasses und der Furcht lebten die Juden seit dem Pogrom von 1903. Besonders besorgniserregend wurde die Lage während des russisch-japanischen Krieges. Jede neue Niederlage der russischen Armee wurde im antisemitischen Sinne ausgebeutet, und man hörte in einem fort seitens der Antisemiten die Drohung: „wenn nur der Krieg zu Ende ist, so kommen die Juden dran." Als die Freiheitsbestrebungen greifbare Formen annahmen, d. h. nach der Veröffentlichung der Bulyginschen Verfassung, stieg der Unmut der reaktionären Partei noch mehr, und sie begann offen mit einem Pogrom zu drohen. Ein Bekannter Pronins, Rechtsanwalt Sohmitow, war eine Woche vor den Ereignissen so informiert, dass er im Klub vor einigen Notabeln sagte: ,,Bald wird man ihnen zeigen, was Freiheit heißt," ein geflügeltes Wort, das von Kruschewan geprägt war, der im ,,Drug" erklärte : ,,Die Juden wollen Freiheit, wohlan, wir werden sie schon lehren, was Freiheit sei."

Unter der christlichen Bevölkerung zirkulierten die unglaublichsten Gerüchte, z. B. dass die Juden den Japanern Geld und Schiffe liefern, dass sie eine südrussische Republik mit dem Odessaer Rechtsanwalt Pergament, einem bekannten getauften Juden, an der Spitze bilden, den Gouverneur Charusin durch. Dr. Mutschnik, den Polizeimeister durch Dr. L. Kogan (zwei angesehene jüdische Ärzte) ersetzen wollen usw. Ferner wurden unter der Bevölkerung Schriften und Aufrufe judenhetzerischen Inhalts verbreitet, z. B. die Broschüren „Jüdische Pächter", ,,Odessaer Tage", ,,Mammon", „Für Zar, Gesetz und Ordnung", „Brüder Christen" usw. Hauptsächlich aber und unausgesetzt schürte den Hass die Zeitung von Kruschewan, deren Redaktionslokal zugleich die Hauptstätte der aktiven Pogromtätigkeit war. Als nun am 17. Oktober das kaiserliche Manifest veröffentlicht wurde, bemächtigte sich der Juden sofort eine Panik. Die von den radikalen Parteien Kischinews am 16. proklamierte Arbeitseinstellung hatte im Orte eine furchtbare Erregung hervorgerufen. Zwar beteiligten sich an dieser politischen Kundgebung mit hingebendem Eifer die jugendlichen jüdischen Arbeiter, aber ihre Versuche, die christlichen Berufsgenossen, Arbeiter wie Handlungsgehilfen, ebenfalls dazu zu bewegen, hatten nur partiellen Erfolg und stießen oft auf hartnäckigen Widerstand, der am 17. und 18. in blutige Schlägereien ausartete. Die Kischinewer Juden sahen wohl, dass der Streik, dem große Bevölkerungsschichten verständnislos gegenüberstanden, die Pogromgefahr wesentlich stärke, sie waren aber ohnmächtig gegen die Bewegung und den sich überstürzenden Gang der Ereignisse. Als am 18. die Pogromgerüchte sich noch mehr verdichtet hatten, lief eine Menge junger Leute zum Gouverneur und forderte von ihm, dass er die Aufrechterhaltung der Ordnung der Stadtmiliz überließe. Dieser empfing sie sehr liebenswürdig und beruhigte die ,,Bürger" in heuchlerischer Art, wie er ja auch noch am nächsten Tag zum Ausspruch sich verstieg: ,,Ich hafte mit meinem Kopfe, dass es keinen Pogrom geben wird . . ." Aber schon am Abend des 18. Oktober war eine Schar von 200 bis 300 Hooligans beim Gouverneur und forderte laut von ihm, dass er gestatte, „die Juden zu schlagen". Offenbar hat der Gouverneur ihnen die Bitte nicht abschlagen können, denn am nächsten Morgen begann der Pogrom.

Der 18. Oktober war trotz der verschiedentlichen Konflikte mit der Polizei doch der Tag der „Konstitution". Es kam dabei sogar zu komischen Szenen. So meldete sich z. B. bei einem Meeting ein Polizeibeamter, der Pristaw Lutschinski, plötzlich zum Worte und hielt eine Rede im Kasernenstile über das Manifest, brachte ein Hoch auf die Verfassung aus und beglückwünschte die „braven Jungen" zur Freiheit, die sie erobert haben. Es ist nicht uninteressant, dass, während die ganze Stadt voll war von konstitutionellen Reden, die Kunde vom Manifeste in viele christliche Kreise noch nicht gedrungen war". Und zwar waren es nicht etwa einfache Bauern, sondern Leute, denen die Macht gehörte und denen die „Aufrechterhaltung der Ordnung" oblag. An einer Ecke traf eine Schar von Demonstranten auf eine Patrouille, die von einem Offizier befehligt war. Eine Weile standen Soldaten und Demonstranten schweigend gegenüber. Dann aber befahl der Offizier den Soldaten, auf die Demonstranten zu schießen. In diesem gefährlichen Augenblick, als die Soldaten schon schussbereit waren, wagte sich ein besonders mutiger Jüngling hervor, kam auf den Offizier zu und zeigte das gedruckte Manifest. Der Offizier erblasste und hieß die Soldaten umkehren. Es kam jedoch bei anderer Gelegenheit zu brutalen und bestialischen Misshandlungen der Demonstranten und sonstiger Passanten durch Polizisten und Soldaten. Besonders blind wüteten diese im Hofe der sogen. ,,Roten Mühle", wo die Dragoner in blinder Wut gegen 20 Personen lebensgefährlich verletzten. Über die Zügellosigkeit und Anarchie in der Schutzmannschaft von Kischinew legt folgende Tatsache beredtes Zeugnis ab: Als eine Stunde nach dem Massaker an der „Roten Mühle" der Kommandeur des Dragonerregiments samt einigen Revieraufsehern an Ort und Stelle erschienen, um eine Untersuchung einzuleiten, kam eine Schar von Polizisten in den Hofraum der Mühle, zog blank und stürzte sich auf das Publikum. Nur dank den wiederholten Drohungen des anwesenden Kommandeurs Ließen sie brummend von ihrem Vorhaben, ein Blutbad anzurichten, ab. Als jedoch einer vom Publikum sich mit Entrüstung über die verbrecherische Haltung der Polizisten äußerte, bemerkte ihm der Pristaw: „Reizen Sie lieber nicht die Polizei, sonst wird es schlimm enden. Glauben Sie nur ja nicht, dass alles schon zu Ende ist . . ."

Während der 18. Oktober mit Freiheitskundgebungen eingeleitet war, wobei, nach Aussage russischer Radikaler, die Juden allzu scharf ins Zeug gingen und in ihrem Radikalismus die Grenze des Gebotenen überschritten, begann der 19. mit einer Gegendemonstration der „Patrioten". Diese versammelten sich am frühen Morgen auf dem Tschufliner Platze. Sie waren sämtlich bewaffnet, manche mit Revolvern, die meisten mit Stangen und Stemmeisen. In der Mitte standen die Rädelsführer Pronin, Schtscherban, Gendarmerieoffizier und Mitarbeiter der „Nowoje Wremja", ferner der Organisator der „Patriotenliga" Wassiljew u. a. Sie führten aufhetzende Reden gegen die Juden, die vom Pöbel mit den Rufen: „Nieder mit den Juden! Schlagt die Juden! Wir wollen Judenblut! Wir werden ihnen zeigen, was Freiheit ist!" aufgenommen wurden. Charakteristisch ist folgender Fall, den einer der liberalen und angesehensten Männer von Kischinew, Ingenieur Kusch (Russe), erzählte. Als er von dem Meeting auf dem Tschufliner Platze erfahren habe, sei er sofort hingegangen und habe sich an seine Arbeiter, die unter den Zuhörern Pronins und seiner Helfer waren, gewandt, und sie ermahnt, den Hetzreden kein Gehör zu schenken. Darauf antwortete ein Arbeiter: „Sie wissen, Herr, wie sehr wir Sie lieben" — zum Beweis küsste er ihm die Hand — , „aber die Juden werden wir doch schlagen!" Auf einmal fiel inmitten dieses fanatisierten Haufens ein blinder, provokatorischer Schuss — und das war das Signal zum Pogrom. Der provokatorische Schuss war von allen, sogar von der russischen Bevölkerung mit Bangen vorausgesehen und erwartet. Als nämlich der Archiereus der Stadt, ein humaner Priester, die Geistlichkeit zu sich berufen und ihnen vorgeschlagen hatte, mit dem Kreuz in der Hand dem Volke Frieden zu predigen, rieten die Geistlichen von diesem Vorhaben ab, indem sie ihre Ansicht dadurch bestärkten, dass ein eventueller provokatorischer Schuss auf ein Heiligenbild sofort zu den tollsten Gerüchten Anlass geben und die Lage noch verschlimmern würde.

Unter Hurrarufen, das Kaiserbild voran, begaben sich die Hooligans zum Alexanderplatz, wobei ein Teil, eine Gruppe von etwa 100 Leuten, schon am Wege unmittelbar mit der Verwüstung jüdischer Häuser begann. Alsbald traf aber ein Trupp bewaffneter jüdischer junger Leute ein, denen es gelang, die Hooligans fortzujagen. Diese wandten sich nun zum Alexanderplatz, wo sie mit den übrigen sich vereinigten. Unterwegs wurden einige Juden halbtot geschlagen und zwei, ein junges Mädchen und ein Jüngling, getötet. Bald darauf kam der Gouverneur und lud den Mob zu einem Gottesdienste anlässlich des Manifestes ein. Die Hooligans willigten ein. Aber es kam nicht dazu. Als sie unterwegs ein jüdisches Geschäft plündern wollten, erfolgte nämlich sofort ein Zusammenstoß zwischen ihnen und einer Gruppe jüdischer Selbstwehrleute, die auf die Hooligans feuerten und sie in die Flucht schlugen. Aber schleunigst war eine Dragonerpatrouille zur Stelle, die zwischen die Hooligans und die Selbstwehr sich stellte, und jene somit deckte. Die nunmehr ungehinderten Hooligans stürzten sich unverzüglich mit wildem Gebrüll auf die nächsten jüdischen Geschäfte, die sich in dieser Straße, der Puschkinskaja, befanden — und in einigen Augenblicken war alles ringsumher vernichtet; eine Flammensäule schlug sodann knisternd aus einem der Gebäude, die Buchhandlung von Sch. stand in Flammen. Im Laufe einer halben Stunde war die ganze Puschkinskaja von Trümmern bedeckt. Der Pogrom nahm immer größere Dimensionen an. Die Hooligans teilten sich in Haufen, und zerstreuten sich in den umliegenden Straßen, um sich Mord und Verheerung verbreitend. Den einzelnen Scharen voran ging gewöhnlich ein Polizist, der die jüdischen Geschäfte bezeichnete. Viele Juden wurden furchtbar misshandelt. Es gab fast keine Rettung vor ihrem Blutdurst. So fielen sie in der Nikolajewskajastraße in der Nähe der „Talmud-Thora" über einen jungen Juden her, den sie so lange mit Knütteln und Brecheisen schlugen, bis er halbtot zusammenbrach. In diesem Zustande ließen sie ihn auf dem Boden liegen. Als aber ein Polizist, der in der Nähe stand, bemerkte, dass der junge Mann noch lebe, schoss er auf ihn zweimal und tötete ihn.

Der Gouverneur und die sonstigen Spitzen der Behörden sahen sich die Vorgänge ruhig an. Ihnen zur Seite standen Polizei- und Militärpatrouillen, die nicht bloß untätig, sondern auch billigend sich verhielten. Unter den Plünderern befanden sich viele Polizisten und kleine Beamte, die es oft gar nicht für nötig erachteten, sich zu verkleiden. So legal war der ganze Pogrom. Als G., der Besitzer eines großen Geschäftes, das von den Hooligans vor den Augen der Behörden geplündert wurde, sich händeringend an den dort anwesenden Gouverneur wandte und ihn um Hilfe anflehte, antwortete ihm dieser sanft: ,, Beruhigen Sie sich, Sie sind aufgeregt. Kommen Sie zu mir morgen!" Als G. sich am nächsten Tage nebst anderen Juden schutzflehend zum Gouverneur begab, wollte sie dieser überhaupt nicht empfangen. Überhaupt war der Mann schon am 19. Oktober wie umgewandelt. Wohl hatte er noch einer Abordnung, die aus Juden und Christen bestand, die mehr als programmäßige, oben erwähnte Zusicherung gegeben, aber die angenommene Freiheitsmiene stand ihm nicht mehr. Er befand sich wohl schon ganz im Banne seiner untergebenen Pogromstifter. So geschah in Wirklichkeit seitens der Behörden nichts zum Schutz der Juden. Der Pogrom wurde trotz der großen Anzahl von Polizeibeamten und Militärmannschaften (es gab in der Stadt 2.000 Soldaten) nicht unterdrückt, sondern er wuchs immer mehr und mehr an, und nahm am nächsten Tag noch viel grausamere und schrecklichere Formen an. Verstärkt wurde der Pogrom auch durch den Aufruf des Gouverneurs, worin er die Juden beschuldigte, zuerst geschossen und die Christen angegriffen zu haben. Die jüdische Selbstwehr war beinahe gänzlich desorganisiert und schlecht bewaffnet. Sie bestand alles in allem aus 150 Bewaffneten, von denen nur 100 Personen mit Revolvern, die übrigen aber mit Messern und Keulen versehen waren. Kaum hatte sich die Selbstwehr den Hooligans entgegengestellt, als die Soldaten auf die Juden zu schießen begannen. Immerhin gelang es der Selbstwehr, an der auch zehn Christen von der S.-R.-Partei beteiligt waren, an manchen gefährdeten Stellen, den Plünderern Widerstand zu leisten und sie zu vertreiben. So verjagten sie sie vom „Neuen Markt", von der Charlampijewskaja usw.

Die Soldaten verfuhren ihrerseits nach dem Muster der anderen Pogrome, indem sie auf einen wahren oder angeblichen Schuss, der aus einem Haus fiel — diese Schüsse stellten sich nachgewiesenermaßen immer als provokatorische heraus — das Haus sofort beschossen, ohne auf die zahlreichen Opfer dieses Verfahrens zu achten. So z. K. machten sie es mit dem Haus von Spiwak auf der Alexandrowskaja, wobei es sich nachher erwies, dass der Schuss, den sie als Grund für diese Maßregel angaben, von einem Soldaten abgegeben war. Das Haus von Halperin wurde schon gar ohne jeglichen Vorwand beschossen. Tragisch ist die Geschichte der Familie Bronstein, die bei der Beschießung eines dem armenischen Bischof gehörenden Hauses, in das sich Juden geflüchtet hatten, bis auf eine Tochter getötet wurde. Mit besonderer Härte wütete der Pogrom die ganze Nacht zum 20. Oktober. Am Morgen verbreitete sich die Nachricht, die Juden hätten ein Dragonerpferd getötet. Um diese Tat zu rächen, begannen die Soldaten, mit Erlaubnis ihrer Vorgesetzten, auf die Juden unterschiedslos auf den Straßen und in die Häuser zu feuern.

Natürlich beschäftigte sich der Mob speziell mit Plünderungsarbeiten. Zahlreiche Geschäfte wurden demoliert und ausgeraubt, und die Soldaten und Polizisten halfen, die Waren zu stehlen. Die Juden wandten sich telegraphisch an Witte und baten um Hilfe gegen den Gouverneur, der den Pogrom, begünstigte. Charakteristisch dafür war sein Verhalten zunächst am 20. gegenüber einer abermaligen Judenabordnung. Sie wurde nicht zugelassen, da — es war schon um 10 Uhr — , der Gouverneur schlafe. Als sie in einer Stunde wiederkamen, empfing sie im Hofe, zwischen zwei Soldatenreihen, die das Gouvernementsgebäude bewachten, der Vizegouverneur. Endlich erschien der Gouverneur selbst, schrie und schimpfte, sagte, die Juden seien sämtlich Rebellen, sie seien schuld an allem und er wolle mit ihnen überhaupt nicht reden. Mit diesen Worten wandte er ihnen den Rücken und ging weg. Die Deputation musste unverrichteter Dinge fortgehen. Einer der Deputierten fand jedoch den Mut, dem Gouverneur sagen zu lassen, dass alle seine Worte unwahr und eine Insinuation seien, und dass er nicht des Postens würdig sei, den er innehabe.

Am 20. abends kam eine Verfügung aus Petersburg, dem Pogrom ein Ende zu machen. Die Wirkung blieb nicht aus. Die Soldaten feuerten sofort auf die Hooligans, töteten einige von ihnen und jagten sie in die Flucht. Am nächsten Tag versuchten die Hooligans wieder, den Pogrom fortzusetzen, da sie an den Ernst der Regierung nicht glauben wollten. Eine Salve der Patrouillen genügte jedoch, um sie zu verjagen. Damit war der Pogrom zu Ende.

Der Anteil der Behörde am Pogrom war diesmal so klar und sichtbar, dass die Regierung sich beinahe nicht weiß zu waschen versuchte. Sie spielte kein Verstecken mehr. Alle Welt sah, wie Polizisten und Soldaten plünderten und raubten. Die Vorgesetzten Ließen es geschehen. Als später die geschädigten Juden die Namen der Plünderer angaben und Durchsuchungen verlangten, beachtete die Polizei ihre Angaben gar nicht. Eine Reihe von Morden, von Polizisten an Juden begangen, ist festgestellt und der Staatsanwaltschaft übergeben worden. Alles in allem war es ein Pogrom, der, von Regierungsorganen inszeniert, auf guten Boden gefallen war. Das Verhältnis der christlichen Gesellschaft war fast durchgängig feindselig. Mit Ausnahme der Armenier und vereinzelter Russen benahm sich die ,,Gesellschaft" antisemitisch. Es kamen auch hier Fälle vor, wo die hilfesuchenden Juden von den Christen, in deren Häusern sie sich verbergen wollten, hinausgejagt wurden (so z. B. der Jude M. von einem Geistlichen, seinem langjährigen Nachbar, bei dem er Schutz suchte). Der materielle Schaden, wenn auch geringer als 1903, betrug doch 300.000 Rubel. So wurde eine Reihe von großen Geschäften demoliert und ausgeplündert, vier Läden waren sogar verbrannt. Auch viele Menschenopfer kostete der Pogrom. Es gab 29 Tote, 56 Verwundete, einen Fall von Vergewaltigung. Und wie ein schwerer Alp drückt seitdem die Angst vor weiteren Pogromen auf die jüdische Bevölkerung des vielgeprüften Kischinew.

Russland 002. Petersburg, Winterpalast, Architekt Rastrelli

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Russland 002. Petersburg. Der Taurische Palst (Gebäude des Reichsduma)

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Russland 003. Petersburg, Altes Michael-Palais (Ingeneurschloss)

Russland 003. Petersburg, Altes Michael-Palais (Ingeneurschloss)

Russland 003. Petersburg, Denkmal Peters des Großen

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Russland 004. Petersburg, Blick von der Newa auf die Isaakskathedrale und den Palast des Heiligen Synod

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Russland 005. Petersburg, Museum Alexander III.

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Russland 006. Petersburg, Holzbarken auf der Fontanka bei Eisgang

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Russland 007. Petersburg, Alexandersäule, errichtet von Nikolaus I. zur Erinnerung an den Sieg über Napoleon

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Russland 007. Petersburg, Vorhalle der Isaakskathedrale

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Russland 008. Petersburg, Ein Landhaus in der Umgebung

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Russland 008. Petersburg, Eine Feuerwachstation

Russland 008. Petersburg, Eine Feuerwachstation

Russland 008. Petersburg, Holzbarken auf der Newa im Sommer

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Russland 008. Petersburg, Teebude in einer Vorstadt

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Russland 009. Petersburg, Am Hafen

Russland 009. Petersburg, Am Hafen

Russland 009. Petersburg, Das Straßenpflaster

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Russland 010. Petersburg, Der Buddhistentempel

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Russland 010. Petersburg, Die große Moschee

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Russland 010. Petersburg, Isaaksplatz

Russland 010. Petersburg, Isaaksplatz

Russland 010. Petersburg. Der Peterspalast im Winter

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Russland 011. Der Iswostschik (Lohnkutscher)

Russland 011. Der Iswostschik (Lohnkutscher)

Russland 011. Eine Nebenbahn

Russland 011. Eine Nebenbahn

Russland 011. Schlitten

Russland 011. Schlitten