Boll, Ernst Friedrich August Dr.

Ein Nekrolog von Franz Christian Boll
Autor: Boll, Franz Christian (1805-1875) deutscher evangelisch-lutherischer Theologe, Pädagoge und Historiker, Erscheinungsjahr: 1869
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Ernst Boll, Mecklenburg, Naturgeschichte
Aus: Archiv des Vereins der Freunde der Naturgeschichte in Mecklenburg, Band 22, herausgegeben von Dr. C. M. Wiechmann, 1869
Wenn ich mich anheischig gemacht habe, in diesem Archiv, das 21 Jahre lang vorzugsweise das Werk meines verstorbenen Bruders gewesen ist, ihm durch einen Nekrolog ein ehrendes Denkmal zu stiften, so geschah es in der Überzeugung, dass schwerlich ein anderer dieses zu leisten werde im Stande sein. Keinem zweiten können die äußerlichen Verhältnisse seines Lebensganges so bekannt sein, wie sie mir es sind, der ich 50 Jahre lang fast beständig mit ihm unter einem Dache gelebt habe. Die verhältnismäßig wenigen Jahre, welche der eine oder der andere von uns nicht in Neubrandenburg war, haben wir in beständigem brieflichen Verkehr gestanden, und in der zweiten Hälfte seines Lebens sind wir stets nur auf Tage von einander getrennt gewesen. So lange Jahre des vertrautesten Umganges lassen auch die geheimeren Falten des Herzens nicht verborgen bleiben: seine Gesinnung, seine Anschauung und Wertschätzung der Dinge lag vor mir offen da, ja sie war im Grunde bei uns beiden dieselbige. Bin ich auch nicht eingedrungen in den tiefen und unerschöpflichen Schacht der Naturwissenschaften, welchen mein Bruder vorzugsweise seine Tätigkeit gewidmet hat, so standen wir uns doch auf andern Feldern der Wissenschaft nahe, tauschten miteinander aus und lernten von einander. Deshalb halte ich mich denn für berufen, hier in dieser Zeitschrift nicht nur eine gedrängte Schilderung seines äußern Lebensganges, sondern auch seiner geistigen Entwickelung und seiner Leistungen auf dem Gebiete der Wissenschaften niederzulegen.

Unter den hinterlassenen Papieren meines Bruders befindet sich auch der Anfang einer Selbstbiographie, wahrscheinlich in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre niedergeschrieben; leider aber auch nur der Anfang, der bis in die Mitte seiner Universitätsjahre reicht. Ich werde denselben hier mitteilen und einige weiter ausführende Bemerkungen daran knüpfen.

„Ich wurde am 21. September 1817 in Neubrandenburg geboren. Meinen Vater, Franz Christian Boll, Prediger an der Marienkirche daselbst, verlor ich schon im Februar (12.) 1818*) und von da an stand ich unter der alleinigen Obhut meiner Mutter Ernestine Friederike geb. Brückner; schon bei Lebzeiten meines Vaters war sie sehr schwächlich gewesen, dennoch aber überlebte sie ihn um 20 Jahre. Sie war eine vielseitig gebildete, für alles Edle und Schöne tiefempfängliche Frau, die mich mit der innigsten Liebe und treuesten Sorgfalt leitete, kurz mir Mutter im eigentlichsten Sinne des Wortes gewesen ist. Ihre Kränklichkeit und ihre Abneigung vor dem gewöhnlichen gesellschaftlichen Leben beschränkte sie fast ganz auf das eigene Haus und sie verkehrte nur mit wenigen Freundinnen und mit ihren auswärtigen Geschwistern durch häufige gegenseitige Besuche.“

*) Unser Vater starb im kräftigsten Mannes Alter, in seinem 42. Jahre, am Typhus; unsere Mutter war zu der Zeit 38 Jahre alt.

„Ich war als Kind gleichfalls sehr kränklich, und hatte namentlich in meinem dritten Jahre eine lebensgefährliche Krankheit zu überstehen, welche mir schon vier Geschwister geraubt und nur einen zwölf Jahre älteren Bruder, Franz Christian, übrig gelassen hatte. Sie kam in Ludwigslust zum Ausbruche, wohin meine Mutter mit mir zu ihrem Bruder, dem Ober-Medizinalrat Brückner, gereist war, durch dessen ärztliche Behandlung ich aber gerettet wurde. Nachdem ich in Neubrandenburg einigen Privatunterricht genossen, aber nur wenig gelernt hatte, bezog ich daselbst im Jahre 1826 das Gymnasium, wo ich gleichfalls nur geringe Fortschritte machte. Teils war daran Kränklichkeit Schuld, teils häufiger Lehrerwechsel, teils aber auch der Umstand, dass für diejenigen Disziplinen, die mich besonders interessierten, die Geschichte, Geographie und Naturwissenschaften nur unzureichend gesorgt war. Für Arithmetik und Geometrie hatte ich gar keinen Sinn und begriff sehr wenig davon; die philologischen Studien widerten mich in der Art, wie sie betrieben wurden, geradezu an. — Privatim hatte ich Unterricht in der Musik und im Zeichnen, welche Künste mich zwar sehr interessierten, in denen ich es aber wegen des zum Teil mangelhaften Unterrichts nicht weit gebracht habe. Überhaupt habe ich der Schule wenig zu verdanken, mein Unterricht blieb mir vielmehr selbst überlassen.“

„Mein Vater hatte eine beträchtliche Bibliothek von c. 2.000 Bänden, besonders theologischen, historischen, klassischen und belletristischen Inhalts, hinterlassen. Ich konnte dieselbe stets ungehindert benutzen, und bald fing ich an mit besonderer Vorliebe unter diesen Büchern herumzukramen. Ich las sehr viel und sehr verschiedenartiges, was wesentlich zur Erweiterung meines Gesichtskreises beitrug und wodurch ich schon frühzeitig mit einer Menge von Büchern, wenn auch nur im Allgemeinen, bekannt wurde. Unter den klassischen Autoren waren Platon, Xenophon und Seneca, und unter den neueren deutschen Lessing und Schiller meine Lieblingslektüre, gegen Goethe und Jean Paul dagegen hatte ich einen angebornen Widerwillen; auch Swift ward in der deutschen Übersetzung schon frühzeitig gelesen.“

„Für die Schönheiten der Natur war ich von meiner Kindheit an sehr empfänglich und die Umgegend meiner Vaterstadt bot mir in dieser Beziehung sehr viel. Auch Liebe zu Naturstudien erwachte frühe in mir, und durch meine Mutter, welche aus einer Familie von Botanikern stammte, wurde ich zunächst auf die Botanik hingeleitet. Durch häufigen Verkehr mit unserem Hausarzte, dem gelehrten Hofrath C. F. Schultz, Verfasser der Flora Stargardiensis, und durch mehrere Reisen nach Ludwigslust, wo damals unter meines Oheims G. Brückner Auspicien die Botanik und überhaupt die Naturstudien ganz besonders florierten, wurde ich allmählich in dies Studium weiter hineingeführt. Mit besonderem Eifer betrieb ich es aber, als W. Knochenhauer als Lehrer an das Neubrandenburger Gymnasium berufen wurde, und dieser in der kurzen Zeit seiner Wirksamkeit daselbst den Naturwissenschaften einen erfreulichen Aufschwung gab, der aber leider nach seinem Weggange sogleich wieder nachließ. Er botanisierte mit uns, erweckte für Physik einen wahren Enthusiasmus unter den Schülern, und machte uns zuerst mit der Chemie bekannt. — Auch die Geschichte meiner Vaterstadt regte schon frühzeitig mein Interesse an, und schon als Tertianer begann ich Collectaneen über dieselbe anzulegen, was mir, als es zufällig entdeckt ward, von meinem Lehrer als eine Beschäftigung mit Allotriis verwiesen wurde.“

„Unter diesen eigenen Studien und im Verkehr mit meiner Mutter verfloss mir meine Schulzeit sehr angenehm und still. Diese Stille wurde nur durch kleine Fußreisen unterbrochen, die ich zu benachbarten Verwandten, besonders nach Pleetz*) unternahm. Hin und wieder fiel auch eine größere Reise nach Ludwigslust vor, die ihrer dort mir gebotenen geistigen Anregung wegen mir ganz besonders lieb waren. Im Jahre 1837 unternahm ich mit zwei Freunden eine Fußreise nach Rügen, welches durch seine so mannigfaltigen Naturschönheiten einen unbeschreiblichen Eindruck auf mich machte, der auch durch mehrfache spätere Reisen dorthin noch immer nicht geschwächt, sondern fast noch gesteigert worden ist.“

*)Über Pleetz, wo eine jüngere Schwester unserer Mutter an den Pächter Runge verheiratet war, bemerkt (1842) mein Bruder in seinem Tagebuche: „Es ist der einzige Ort seit meiner Kindheit, welcher sich nicht verändert hat. Wenn man ein glückliches Haus und eine glückliche Familie kennen will, so weiß ich kein besseres Beispiel zu nennen als Pleetz.“

„Um Michaelis 1838, als ich grade mein 21. Lebensjahr vollendet hatte, bezog ich die Universität. Ich hatte Neigung Medizin zu studieren, da ich aber sah, dass meiner Mutter das Studium der Theologie lieber war, so beschloß ich hierin ihrem Wunsche nachzugeben. Wäre dies nicht geschehen, so hätte wahrscheinlich mein ganzer künftiger Lebenslauf eine viel günstigere Wendung genommen.“

„Ich ging nach Berlin, wo ich anderthalb Jahre blieb, während welcher Zeit mir der Tod meine Mutter entriss.*) Das Studium der Theologie interessierte mich sehr; ich begann es aber mit dem festen Vorsatze, mich nicht blind den Lehren irgend einer theologischen Schule hinzugeben, sondern überall selbst zu prüfen und nur der eigenen Überzeugung zu folgen. Unter den theologischen Dozenten fesselte mich nur Neander mit seiner aus inniger Überzeugung entsprießenden Frömmigkeit und seiner historischen Gelehrsamkeit. Außerdem hörte ich mit vielem Vergnügen Meyens Vorträge über Pflanzenphysiologie und Pflanzengeographie, und Doves Vortrag über Atmosphärologie und Klimatologie. Hier in Berlin fiel mir das erste Werk von A. v. Humboldt in die Hände (Ansichten der Natur), dessen Schriften von nun an meine Lieblingslektüre wurden. Ich begann eine komparative Flora der deutschen Ostseeländer auszuarbeiten, wobei ich auch die Pflanzengeographie dieses Bezirkes mit in den Kreis meiner Erörterung zog. Dies führte mich denn ganz natürlich zur Geognosie und diese wieder zur Zoologie, — Studien, denen ich mich aber erst später mit besonderer Vorliebe hingab. Was ich zu meinen Studien an literarischen Hilfsmitteln bedurfte, gab mir die königliche Bibliothek, die ich sehr fleißig, teils zu diesem Zwecke, teils auch um für meinen Bruder Exzerpte aus den Kirchenvätern anzufertigen, besuchte. — An den gewöhnlichen Studenten-Vergnügungen nahm ich keinen Teil. Erholung fand ich in einem kleineren befreundeten Kreise, besuchte oft das Museum, noch öfter aber die Oper, wohin mich Mozarts, Webers und Glucks Meisterwerke mit unwiderstehlicher Gewalt zogen.“

*) Sie starb, während mein Bruder in den Osterferien zu Hause war, am 22. April 1830, wie später er selbst, an Lungenlähmung.

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1. Mein Bruder war in seiner ersten Lebensperiode ein sehr schwächliches und kränkliches Kind, das beständig unter der Obhut und Behandlung eines Arztes stehen musste. Gehirn-Entzündung war die Krankheit, die in seinem dritten Jahre sein Leben bedrohte, und die vor ihm vier Geschwistern das Leben gekostet und nur mich allein ihm gelassen hatte. Seine Kränklichkeit schloss ihn fast gänzlich von dem Umgange mit gleichaltrigen Knaben aus; er verkehrte fast nur mit den Töchtern unserer Mutter-Schwester, die an den Professor Milarch (später Pastor zu Schönbek) verheiratet war. Aus dieser frühen Gewöhnung hat mein Bruder stets eine besondere Vorliebe für weiblichen Umgang behalten. Erst nachdem er das erste Dutzend Jahre zurückgelegt hatte, befestigte sich seine Gesundheit mehr und mehr, und als er zur Universität abging, war er vollkommen kräftig und gesund, namentlich an den Lungen, wie die ärztliche Untersuchung ergab, als er zur Aushebung für den Militärdienst sich stellen musste.

2. Die geistige Entwickelung schritt bei meinem Bruder in ihren ersten Stadien nur ungemein langsam vor. Seine Schwächlichkeit und durch Krankheit gestörte körperliche Entwicklung trug daran, wie er selbst bemerkt, die meiste Schuld. Er lernte gern, aber nur mit großer Anstrengung, doch was er einmal aufgefasst hatte, das saß auch fest. Ein großer Vorteil für ihn und von dem entschiedensten Einfluss auf seine spätere Entwicklung war es, dass er sich frühe an eigenes Studium gewöhnte und auch Kenntnisse sich anzueignen suchte, die nicht grade in den Bereich der Schule gehörten. Wie wesentlich das eigene Studium den Aufschwung des Geistes fördert und wie grade dieses die Liebe zu den Wissenschaften einhaucht, das habe ich an mehr als einem Beispiele sich bewähren sehn. Die Geschichte seiner Vaterstadt, von welcher damals nur wenige und diese noch dazu sehr weniges wussten, und die Botanik spornten bei ihm schon auf Schulen den eigenen Eifer, und die Beschäftigung mit diesem Zweige der Naturwissenschaften eben war es, welche meinen Bruder bestimmte, sich dem Studium der Medizin widmen zu wollen. Allein nicht lange vor seinem Abgange zur Universität wurde, vorzüglich auf Betrieb unserer Mutter, sein Lebensplan geändert. Sie hielt meinen Bruder zum Beruf eines praktischen Arztes für zu weichen Gemütes; am eignen Vater und zwei Brüdern, die diesen Beruf erwählt, hatte sie hinlänglich Gelegenheit gehabt zu erfahren, welch schwere Anfechtungen für ein fühlendes Herz grade dieser Beruf mit sich führt. Mein Bruder entschloss sich daher zum Studium der Theologie, in der Erwartung, dass späterhin die gemächlichere Lage eines Landpfarrers ihm Muße bieten würde, auch mit den Naturwissenschaften sich zu beschäftigen.

3. Wohl vorbereitet bezog mein Bruder zu Michaelis 1838 die Universität Berlin, auf welcher er drei Semester studierte. Die Ferien brachte er gewöhnlich, in der Heimat zu, da Eisenbahnen damals noch nicht den Besuch entfernterer Gegenden so sehr erleichterten. Meinem Rat folgend, hat sich mein Bruder auf Universitäten niemals mit dem Studenten-Verbindungswesen befasst; in den meisten Fällen zieht es zu sehr von der Beschäftigung mit den Wissenschaften ab. Nachdem er sich ein mal entschlossen hatte Theologie zu studieren, widmete er derselben seinen Fleiß auch in vollem Maße; dass er aber dabei die ihm so lieben Naturwissenschaften nicht vernachlässigte, bemerkt er selbst. Vorzüglich war es damals noch die Botanik, in welcher er treffliche Belehrung bei Prof. Meyen fand, und mit dessen schönen Mikroskopen er den Bau der Pflanzen genauer zu untersuchen lernte. Auch machte er im Sommer 1839 die botanischen Exkursionen mit (nach dem Finkenkruge, nach Pankow, nach den Rüdersdorfer Kalkbergen), welche die Prof. Kunth und Meyen veranstalteten. Dem letzteren legte er eine von ihm im dritten Semester ausgearbeitete tabellarische Übersicht der mecklenburgischen, pommerschen und holsteinschen Flora vor, zu deren Herausgabe Meyen ihn ermunterte, die aber aus den von meinem Bruder im Archiv (14, 1) angegebenen Gründen unterblieb. Allein auch die andern Zweige der Naturwissenschaften ließ er keineswegs unberücksichtigt, wie das von ihm in Berlin angelegte starke Heft „Collectanea physica“ Zeugnis davon ablegt.

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Um mehr Gelegenheit zu finden, wie sie Berlin ihm bot, in den Ferien mit den durch Naturschönheit ausgezeichneten Gegenden des deutschen Vaterlands bekannt zu werden, hatte mein Bruder den Entschluss gefasst, für seine noch übrige Studienzeit — drei Semester — Bonn am Rheine zum Aufenthalte zu wählen. Er verließ Neubrandenburg am 24. April 1840 und nahm seinen Weg, nachdem er einige Tage in Berlin verweilt, mit einem Schul- und Universitäts-Freunde in den Harz. Sie erstiegen am letzten Tage des Monats den Brocken, um die berufene Mainacht auf dem Blocksberge zuzubringen, die, wenn auch nicht durch den Besuch von Hexen gestört, doch rau und unfreundlich genug war. Nachdem sie das Osteroder Bergwerk besucht, fuhren sie über Göttingen, Kassel, Marburg und Gießen nach Frankfurt und von hier mit der Taunusbahn nach Mainz, wo mein Bruder das Dampfboot bestieg (sein Reisegefährte wendete sich von hier nach Heidelberg) und am Abend des 4. Mai in Bonn eintraf.

Hier in Bonn war es, wie seine Tagebücher und die von dort an mich gerichteten Briefe beweisen, wo sein Geist sich ersichtlich freier und selbstständiger entwickelte; seine Schreibweise jene Leichtigkeit, Gefälligkeit und Klarheit der Darstellung annahm, welche später seine Schriften auszeichnete; seine Vorliebe und Bestimmung für die Naturwissenschaften immer entschiedener sich kund tat. Zwei Umstände scheinen mir Bonn grade zu dem Orte gemacht zu haben, welche die bis dahin in meinem Bruder noch mehr schlummernden geistigen Anlagen weckten und zeitigten. Zunächst war es in Bonn, sein Umgang, der seinen Gesichtskreis mit einem Male wesentlich erweiterte. Zu Berlin hatte er fast nur mit Mecklenburgern, namentlich mit den grade zahlreich dort studierenden Neubrandenburgern verkehrt, war also in dieser Beziehung in demselben beschränkteren Gesichtskreise geblieben, in welchem er aufgewachsen war. Hier in Bonn traf er keine Mecklenburger; er musste also zu seinem Umgange Studierende aus den verschiedensten Gegenden Deutschlands wählen; natürlich musste dies seinen Blick weiter und freier machen. Noch kräftigeren Aufschwung lieh seinem Geiste hier der stete Verkehr, in welchen er mit einer schönen und großartigeren Natur trat. Die Sonntage, die zahlreichen katholischen Feiertage, welche sonderbarer Weise die protestantische Universität Bonn mitfeiert, wurden von ihm und seinen Freunden, wenn die Witterung es erlaubte, zu Ausflügen in die reizende Umgebung von Bonn benutzt, die größeren Ferien aber zu weiteren Reisen — südwärts bis in Tyrol, nordwärts bis zu den Gestaden der Nordsee — verwendet. Er bemerkt in seinem Reisetagebuche selbst, dass ein Tag aufmerksam im Gebirge zugebracht, die geologische Erkenntnis oft mehr fördere, als das Studium der besten geognostischen Werke.

Das Studium der Theologie vernachlässigte mein Bruder zu Bonn keineswegs, vielmehr betrieb er es mit gewissenhaftem Eifer. Besonders zog ihn Bleek an, auch Nitzsche hörte er mit entschiedenem Nutzen, weniger befriedigte ihn Sack, durchaus unzufrieden war er mit des damals noch „gläubigen“ Kinkels*) Vorlesungen. Auch die Philologie versäumte er nicht in Bonn wieder aufzufrischen, wiederholte für sich mit großem Interesse Platons Apologie, Kriton, Phädon, das Symposion und las mit befreundeten Philologen den Trinummus des Plautus. Naturwissenschaftliche Collegia besuchte er in Bonn so gut wie gar nicht, nur Naturgeschichte der Säugetiere hat er bei Goldfuß gehört. Desto mehr aber wurden nun Naturwissenschaften der Gegenstand seines eigenen Studiums. Für die Botanik lieferten die Ausflüge in die Umgegend reiche Ausbeute; auch begleitete er Prof. Treviranus auf einer botanischen Exkursion. Neben der Botanik trat aber jetzt vorzugsweise die Geognosie als derjenige Zweig der Naturwissenschaften auf, der seine Mußestunden in Anspruch nahm. Er studierte (und excerpirte teilweise) in Bonn Mantells Phänomene der Geologie, Davys Naturforscher auf Reisen, Bronus Lethaca geognostica, Bucklands Bridgewater essai, Brogniarts Tableau des Terrains, qui composent l’ecorce du globe, Cüviers Ansichten der Urwelt, de la Beche Handbuch der Geologie u. a.

*) Über diesen schrieb mir mein Bruder: „H. Licenciat Kinkel ist ein rechter Schwabbler; er will sein frommes Innere auch recht durch die Sprache ausdrücken und spricht deshalb immer im hohlen Grabeston und so langsam“ usw.

Mein Bruder hat sich über diesen Übergang von der Botanik zur Geognosie, der in Bonn stattfand, bereits selbst in dem Nekrologe seines Freundes, des Dr. v. Hagenow, ausgesprochen (Archiv 19,277). Es heißt daselbst: „geognostische Studien hatten mir früher sehr ferngelegen, doch war der Übergang dazu in Berlin, wo ich Prof. Meyens anregende Vorträge über Pflanzengeographie hörte, schon einigermaßen angebahnt worden, indem unter den Faktoren, von denen der Charakter der Flora eines jeden Bezirkes abhängig ist, auch die geognostische Beschaffenheit des Bodens eine gewisse Rolle spielt. Will man sich jenen ganz klar machen, so muss man auch diesem seine Aufmerksamkeit schenken. Ich fing daher schon in Berlin an wenigstens einige geognostische Werke zu durchblättern; zu einem wirklichen lebendigen Studium dieser Wissenschaft kam es aber nicht, denn dazu fehlte in der anscheinend auch aus geologischem Gesichtspunkte so einförmigen norddeutschen Ebene, in welcher ich bis dahin gelebt hatte, jeder äußere Anreiz. Dies gestaltete sich aber hernach in Bonn ganz anders. Plötzlich mitten hinein versetzt in eine Gegend, welche reich ist an den interessantesten geognostischen Erscheinungen, trat mir nun dies Studium in seiner ganzen Bedeutsamkeit unmittelbar vor die Seele. Da ich aber dort keinen Führer hatte, der mir behilflich hätte sein können mich spezieller auf diesem Gebiete zu leiten, musste ich es dabei bewenden lassen mich nur im Allgemeinen etwas zurecht zu finden. Dazu benutzte ich denn auch vielfach meine Mußestunden, durchstreifte forschend und sammelnd das Siebengebirge und die Eifel, letztere sogar bis nach dem petrefactenreichen Gerolstein hin, wo der Anblick der zahlreichen auf den Feldern verstreut liegenden schönen devonischen Versteinerungen mich mit Missmut an die Petrefacten-Armut meiner heimischen Gegend erinnerte.“ Das Siebengebirge hatte mein Bruder in Bonn gleichsam vor der Tür, und es konnte als das Ziel von Spaziergängen betrachtet werden. Besondere Anziehungskraft für ihn besaß am linken Rheinufer das ebenfalls unfern von Bonn gelegene Ahrtal, welches er für eine der romantischsten Gegenden erklärte, die er gesehen, und das er wohl ein halbes Dutzend Male besucht hat. Die Eifel- und das Moseltal durchwanderte er in den Pfingstferien 1841. In den größeren Ferien wurden natürlich größere Reisen unternommen. Die Michaelis-Ferien 1840 benutzte mein Bruder mit mehreren Bonner Freunden, denen sich später auch einige Heidelberger anschlossen, zu einer Tour in das südliche Deutschland. Von Heidelberg nahmen sie ihren Weg das Großherzogtum Baden entlang — nach Straßburg wurde ein Abstecher gemacht —, und gelangten durch den Schwarzwald, dessen höchste Spitze, den Feldberg, sie bestiegen, zu der Nordostecke der Schweiz, sahen den Rheinfall, waren aber bei der Fahrt über den Bodensee von Constanz nach Bregenz vom Wetter so wenig begünstigt, dass sie vor Nebel und Regen nicht einmal die Ufer des Sees erblicken konnten. Von Bregenz aus wanderten sie zunächst in die Bayerischen Alpen über Kempten nach Füssen, und besuchten von hier aus das romantische Hohenschwangau. Dann wendeten sie sich zur Tiroler Grenze. Da aber das Wetter fortwährend höchst unfreundlich blieb, so kehrte hier der größte Teil der Reisegenossen um, und nur mein Bruder und sein Gefährte von der Harzreise drangen über die Ehrenburger Klause vor und gelangten glücklich nach Innsbruck. Hier klärte sich endlich am folgenden Morgen — es war der Geburtstag meines Bruders, der 21. September — das Wetter auf, und sie hatte ,den Vollgenuss die Alpen-Riesen über sich im hellen Sonnenschein zu erblicken. Von Innsbruck machten sie sich auf den Rückweg, verweilten im Zillertal, betraten abermals Bayern und besuchten München, wendeten sich dann nach Augsburg und Ulm, und kehrten durch Württemberg, wo sie in Stuttgart und Heilbronn verweilten, nach Heidelberg zurück, von Mannheim führte der Rheindampfer meinen Bruder rasch nach Bonn.*) —

*) Mitten im Winter, bei einer Kälte Tags von 10 bis 12 und Nachts von 15 bis 16 Grad R. machte mein Bruder eine forcierte Reise — meinetwegen. Ich war im Januar 1841 an den Pocken (Barioliden) schwer erkrankt, war polizeilich abgesperrt und lag ohne die genügende Pflege. Auf die Nachricht davon setzte sich mein Bruder sogleich auf die Post (29. Januar) und eilte zu mir. Am 3. Februar Morgens langte er bei mir an; meine Überraschung, meine Rührung war groß. Am 26. Februar konnte er die Rückreise nach Bonn antreten.

In den nächsten Osterferien, im April 1841, schlug mein Bruder die entgegengesetzte Richtung ein. Begleitet von mehreren Freunden, ging es den Rhein hinunter — in Düsseldorf verweilten sie — nach Rotterdam. Von hier aus nahmen sie ihren Weg über Antwerpen, Mecheln und Gent nach Ostende, wo sie das Gestade der Nordsee erreichten. Über Brüssel, Lüttich, Aachen und Köln kehrten sie nach Bonn zurück.

Gegen Ende (24.) des August 1841 verließ mein Bruder Bonn, das für seine Bildung so einflussreich geworden war, um nach vollendeten Studien nunmehr heimzukehren. Doch schlug er nicht die grade Tour ein, sondern nahm einen weiten Umweg, um auch Franken und Thüringen kennen zu lernen. Er fuhr mit dem Rheindampfer (unter vielen Abstechern) den Fluss hinauf bis Mainz; von da bis Mannheim gelangt, besuchte er noch einmal das schöne Heidelberg. Von hier wendete er sich nach Würzburg; weiter über Meiningen, Suhla und Ilmenau auf Erfurt; von dort über Halle nach Berlin, und eilte ohne Verweilen in die Heimat, welche er am 12. September erreichte.

Mein Bruder verlebte nun in meiner Familie — ich hatte mich inzwischen verheiratet — ein sehr glückliches Jahr. Wiederholt besuchte er von hier aus seine Anverwandten zu Pleetz, seinem Lieblings-Aufenthalt, zu Schönbek*) und zu Gievitz. In den Hundstagsferien 1842 war er mit den jüngern Brüdern meiner Frau auf der Insel Rügen, für ihn eine höchst genussreiche Wanderfahrt, da sie von dem herrlichsten Wetter begünstigt wurde. Zur ersten theologischen Prüfung hatte er sich sogleich bei dem Konsistorium zu Neustrelitz gemeldet, und schon gegen Ende des März 1842 seine sehr sorgfältig abgefassten schriftlichen Arbeiten eingesendet. Mit Ungeduld erwartete er die Ladung zur schriftlichen Prüfung; sie erfolgte erst, als bei ihm bereits der Keim einer Krankheit sich entwickelte, die allen Aussichten auf ein kirchliches Amt für immer ein Ende machte.

*) In der Parochie Schönbek bestieg er am l. Advent 1841 zum ersten und letzten Male die Kanzel.

Zu Michaelis 1842 hatte mein Bruder eine Hauslehrer-Stelle bei den beiden Söhnen des Stadtrichters Rat Seip zu Friedland angetreten, die er nur ein kurzes Vierteljahr bekleidet hat. Am 26. November (Sonnabend) entschloss er sich, mich in Neubrandenburg zu besuchen. Die Witterung war nasskalt und mein Bruder legte, als ein sehr rüstiger Fußgänger, den Weg von über 3 Meilen in 3 Stunden zurück. Auf dem Warliner Felde war ihm ein Bekannter begegnet, mit dem er sich stillstehend eine Zeit lang unterhalten hatte; bei der starken Erhitzung, in welcher er sich befand, war eine heftige Erkältung die Folge davon. Er fühlte sich unwohl, als er bei mir anlangte, fieberte und musste sich bald zu Bette legen. Doch glaubte er am folgenden Tage sich so weit erholt zu haben, dass er nach Friedland zurückkehren könne; Wohl eingepackt sandte ich ihn in einem Zuwagen dorthin ab. Allein er fuhr in Friedland fort zu kränkeln, obwohl er seinen Unterricht besorgen konnte. Zu Weihnachten sandte ihn sein dortiger Arzt nach Neubrandenburg, damit er sich hier vollständig erholen möge. Doch am zweiten Weihnachtstage kam hier die Krankheit zum vollen Ausbruch: er wurde von einer heftigen Lungen-Entzündung, verbunden mit einem starken nervösen Fieber, befallen. Besonders seine linke Lunge litt, und er begann viel Blut auszuwerfen. Sie stellte endlich ihre Funktionen völlig ein, und eines Abends fing auch die Respiration der rechten Lunge an auszusetzen, als nur durch einen glücklichen Zufall die Tätigkeit dieses Lungenflügels wieder hergestellt wurde. Gegen Mitte des Februar war die Entzündung und das Fieber zwar überwunden, aber die Lunge voller Tuberkeln, die linke Brust eingefallen, die linke Schulter sichtlich niedriger, wie die rechte. Vergebens wandten seine Ärzte alle Mittel an, welche ihre Wissenschaft an die Hand gibt, um ihn wieder zu kräftigen. Der Eintritt der bessern Jahreszeit, die Wärme des Sommers brachte keine Erleichterung seines Zustandes, er siechte vielmehr zusehends dahin, profuse Nachtschweiße schienen den letzten Nest seiner Kräfte zu verzehren, und seine Ärzte verzweifelten an der Hoffnung sein Leben zu erhalten; seine Tage schienen gezählt zu sein.

Da äußerte mein Bruder den Wunsch, zu unserm Oheim, dem Medizinalrat Brückner, nach Ludwigslust gebracht zu werden, damit dieser einen letzten Versuch zur Erhaltung seines Lebens mache; er setzte große Hoffnung auf Brückners diätetische Behandlung, und diese Hoffnung sollte nicht getrogen werden. Brückner erklärte sich sogleich bereit, freilich ohne irgend welche Hoffnung zu machen, den armen Leidenden bei sich aufzunehmen. Am 29. Juli verließen wir Neubrandenburg und brachten drei Tage unterwegs bis Ludwigslust zu; mehrere Male fürchtete ich, dass wir ihn nicht lebendig an Ort und Stelle schaffen würden.

Brückner erkannte, dass hier mit Medikamenten nichts mehr auszurichten sei. Diese Mittel waren bereits alle versucht und erschöpft; er sah vielmehr nur eine Möglichkeit, nämlich durch Kräftigung des gesammten Organismus auch die Lungen allmählich wieder zu kräftigen. Zunächst musste auf Herstellung der übermäßig geschwächten Verdauung des Kranken hingewirkt und zu diesem Zweck die vorsichtigste Diät angewendet werden. Mit dem September begann mein Bruder den Obersalzbrunnen zu trinken, welcher ihm gute Dienste tat. Doch blieb sein Puls ungemein frequent, und die Nachtschweiße waren so arg, dass täglich mit den Betten gewechselt werden musste. Erst gegen Ende Novembers trat eine wesentliche Besserung seines Zustandes ein: der Magen begann kräftiger zu verdauen, das Fieber schwand auf kürzere Perioden zusammen, die Nachtschweiße blieben aus.

Am Tage nach dem Weihnachtsfeste besuchte ich ihn. Ich fand ihn an der geöffneten Ofentüre sitzend, um an der Glut sich zu erwärmen. Sein Aussehen war noch überaus elend — livide —, aber ein Fortschreiten in der Genesung unverkennbar. Von da ab ging es — einige Rückfälle ausgenommen, wenn Tuberkeln sich öffneten und Blutauswurf erfolgte — zwar sehr langsam, aber doch ziemlich sicheren Schrittes vorwärts auf der Bahn der Wiederherstellung. Zu einer Wirksamkeit als Theologe war zwar für ihn alle Aussicht verschwunden, aber, er hoffte doch noch auf andere Weise der Welt sich nützlich machen zu können. Es war die ihm von Bonn her so liebe Geognosie, welcher er jetzt seine Tätigkeit zuwandte.

Brückner-Ludwigslust hatte im Jahre 1825 eine kleine Schrift veröffentlicht, unter dem Titel: „Wie ist der Grund und Boden Mecklenburgs und seiner Nachbarländer geschichtet und entstanden?“ — die in Mecklenburg bei manchen das Interesse für die Geognosie geweckt hatte. Er war dadurch in Mecklenburg gleichsam der Mittelpunkt für diese Wissenschaft geworden; von vielen Seiten wurden an ihn Petrefacten eingesandt oder für die Geologie merkwürdige Tatsachen einberichtet. Nun war jene Schrift vergriffen, und ein Buchhändler hatte an ihn die Aufforderung zu einer neuen Auflage derselben gerichtet. Allein Brückner hatte längst eingesehen, dass die in jener Schrift aufgestellten Hypothesen zum Teil vor der Wissenschaft nicht stichhaltig wären. Mit der Petrefacten-Kunde, auf die es hier ankam, eingehender sich zu beschäftigen, fehlte ihm die Muße, da er in jenen Jahren als Arzt ungemein in Anspruch genommen war. Er machte daher meinem Bruder den Vorschlag, dass dieser die Besorgung der neuen Auflage übernehmen möge. Obgleich sich bei ihm zuerst die Bescheidenheit gegen diesen Vorschlag sträubte, so sah er doch ein, dass für Brückner die Ausführung einer zweiten, gänzlich umzugestaltenden Ausgabe unter den obwaltenden Umständen eigentlich eine Unmöglichkeit sei, und so entschloss er sich denn, unter des Onkels Rath und Beistand, die ihm auch im vollsten Maße zu Teil wurden, getrost die Hand ans Werk zu legen. Schon zu Anfang des Februar 1844 konnte er mir melden: „dass ich mit meiner Arbeit zu Stande komme, kann ich jetzt schon absehen.“ Doch unter dem 27. März bekennt er: „Wir haben über unsere physikalische Geographie (so sollte nämlich der Titel der Umarbeitung anfangs lauten) nach und nach so viel Material zusammengebracht, dass, wenn ich dasselbe anfangs gleich auf einem Haufen zusammen gehabt hatte, ich mich schwerlich an die Verarbeitung desselben herangewagt haben würde.“ Allein sein Eifer und Fleiß ermüdete nicht, und am 23. Juni schreibt er mir, dass er schon etwa 500 Folio-Seiten zusammen geschrieben habe.

Seine Sehnsucht, zu mir und in meine Häuslichkeit zurückzukehren, war groß. Er glaubte jetzt mit seinem körperlichen Zustande bekannt genug zu sein, um, mit Hilfe des brieflichen Verkehrs mit unserm Oheim, fortan sein eigner Arzt sein zu können. Doch jene kleinen Rückfälle, die sich auch später noch oft wiederholten, so wie andere Umstände hielten ihn länger in Ludwigslust zurück. Erst am 13 August konnte er es verlassen, und suchte uns — der Kränklichkeit meiner Frau und Tochter wegen verbrachten wir die Hundstagsferien zu Krampas im Bade — auf Rügen auf. Die Freude des Wiedersehens war groß. Die Atmosphäre der kräftigen Seeluft tat meinem Bruder ersichtlich wohl. Wir kehrten zusammen nach Neubrandenburg zurück und haben uns seitdem nicht wieder getrennt.

An der physikalischen Geographie arbeitete nun mein Bruder mit solchem Eifer, dass er schon zu Anfang des November das vollendete Manuskript an Brückner einsenden konnte, damit dieser es mit seinen Bemerkungen und Zusätzen versehen möge. Allein diesem war durch seine ärztliche Tätigkeit die Muße so beschränkt, dass erst um Pfingsten 1845 das Manuskript aus Ludwigslust zurückkam. Mein Bruder arbeitete es nun noch einmal durch, um es zum Druck reif zu machen. Auch besuchte er in diesem Sommer Rügen zum vierten Male, um auf Brückners Rat zur Befestigung seiner Gesundheit in Krampas das Seebad zu gebrauchen. Da ihm die freilich nur sehr kurzen Bäder, mit welchen er auf Brückners Empfehlung jedes mal einen Trunk Seewassers verband, sehr wohl bekamen, so verweilte er den ganzen August und fast noch die Hälfte des Septembers daselbst. Nach seiner Rückkehr ging es an die letzte Redaktion des Manuskripts, dessen Druck zu Anfang des Jahres 1846 begann. Im Mai war derselbe vollendet, und das Werk wurde nun unter dem auf Brückners Vorschlag geänderten Titel: „Geognosie der deutschen Ostseeländer zwischen Lider und Oder“ — der Öffentlichkeit übergeben. Mein Bruder hat in diesem seinem Erstlingswerke geleistet, was unter den obwaltenden Umständen und mit den Vorhandenen Mitteln zu leisten war. Dass er in der Petrefacten-Kunde, die überhaupt damals noch im Werden war, nicht sicher gewesen sei, hat er später bereitwillig eingestanden. Besonders vortrefflich gelungen war die Geschichte der Geognosie (S. 225 257).

Inzwischen hatte bereits im Herbste 1844 mein Bruder die Bekanntschaft des Barons Albrecht v. Maltzan-Peutsch gemacht, in dessen vielseitigen wissenschaftlichen Bestrebungen die Naturwissenschaften vorzugsweise einen Platz einnahmen. Im Juli 1845 besuchte mein Bruder denselben zu Rothenmoor, und hier tauchte zuerst gesprächsweise der Plan auf, die für die Naturwissenschaften in Mecklenburg vorhandenen Kräfte in einen Verein zu gemeinsamer Wirksamkeit und gegenseitiger Förderung zusammenzubringen (Archiv 6, 23 und 9), eine Idee, welche A. v. Maltzan mit dem ihm eigenen Eifer aufgriff und zu fördern suchte. Anfangs beabsichtigten sie, zu diesem Zwecke sich unter die Flügel der naturwissenschaftlichen Professoren an der Rostocker Universität zu stellen, die auch zuerst geneigt schienen an die Spitze eines solchen Unternehmens zu treten, aber später, als es zur Ausführung kommen sollte, sich zurückzogen. Allein A. v. Maltzan war nicht der Mann durch entgegentretende Schwierigkeiten sich zurückschrecken zu lassen, vielmehr spornten sie nur seinen Eifer. Außer meinem Bruder wurde nun auch der Apotheker Dr. Grischow zu Stavenhagen, als tüchtiger Chemiker im ganzen Lande bekannt, für den Plan eines Vereins gewonnen, und diese drei erließen im Juni 1846 eine Aufforderung an die Freunde der Naturwissenschaften in Mecklenburg, mit ihnen am 1. Juli in Malchin zu einer Vorberatung über einen zu gründenden naturwissenschaftlichen Verein zusammenzutreten. Hier fanden sich denn am genannten Tage 17 Natur-Freunde zusammen, von welchen 14*) ihre Bereitwilligkeit einem naturwissenschaftlichen Vereine beizutreten erklärten. Die Gründer des Vereins rechneten darauf, dass die Zahl der Mitglieder mit der Zeit auf etwa 30 und darüber steigen möge; davon, dass er im Verlauf über 200 Mitglieder zählen würde, hatten sie keine Ahnung. Die erste Vereins-Versammlung fand am Mittwoch nach Pfingsten (26. Mai) 1847 zu Malchin statt, auf welcher die inzwischen entworfenen Statuten angenommen, die drei Begründer des Vereins zu Vorstehern und mein Bruder zum Sekretär desselben ernannt wurde.

*) Diese 14 sind nach Archiv 1,7 folgende: Inspektor Benecke zu Pampow, Dr. Betcke zu Penzlin, E. Boll zu Neubrandenburg, Dr. Brückner ebendaselbst, Gymnasial-Lehrer Füldner zu Neustrelitz, Dr. Grischow zu Stavenhagen. Goldarbeiter Madauß zu Grabow. A. v. Maltzan auf Peutsch, Dr. Scheven zu Malchin, Apotheker Timm sen. und Timm jun. daselbst, Landbaumeister Virck zu Sülz, Cand. Willebrand zu Granzin und Pastor Zander zu Barkow; wohl kaum die Hälfte von ihnen ist noch am Leben.

Dieses Ehrenamt hat er seitdem mit bereitester Hingebung und oft unter großer Aufopferung seiner Zeit geführt. Zwanzig Jahrgänge des Archivs hat er herausgegeben, die Vollendung des 21. nicht mehr abgelebt; manche von ihnen sind, wenn anderweitige Beiträge fehlten, fast ganz aus seiner Feder geflossen. Einzelne seiner Arbeiten darunter sind vortrefflich, wie gleich im ersten Jahrgänge die Schilderung der Ostsee, im vierzehnten die Flora von Mecklenburg u. a.

An der großen politischen Bewegung des Jahres 1848*)nahm mein Bruder den lebhaftesten Anteil. Er wurde damals nicht erst, wie so viele, sondern er war schon immer seiner Gesinnung nach Demokrat in seiner edlen Bedeutung, in welcher es denjenigen bezeichnet, der eine politische Gleichberechtigung Aller anstrebt, in soweit sie derselben fähig sind; nicht aber in der gemeinen Bedeutung des Wortes, nach welcher man denjenigen darunter zu verstehen pflegt, der durch Irreleitung des großen Haufens (Pöbels) die besitzenden Klassen auszubeuten und auf unrechten Wegen eigenen Vorteil zu erhaschen sucht. Mein Bruder war soweit davon entfernt, in jener Bewegung auch nur Befriedigung der Eitelkeit zu suchen, dass, obwohl seine Tüchtigkeit ihm damals hier großen Einfluss lieh, er doch niemals darnach gestrebt hat, als Abgeordneter eine politische Rolle zu spielen, wiewohl er sie besser, wie mancher sich vordrängende, würde durchgeführt haben. Als das politische Umschlagen eines in Neubrandenburg erscheinenden Wochenblattes hier einen bedauerlichen Exzess herbeiführte — Neubrandenburg hatte bis dahin eine durchaus gemäßigte Haltung bewahrt — wurde mein Bruder im März 1849 veranlasst, Redakteur eines jenem reaktionären entgegengestellten liberalen Wochenblattes zu werden. Er legte aber die Redaktion sogleich nieder, als um die Mitte des Jahres 1850 die erneuerten Pressegesetze das freie Wort in Politicis nicht mehr gestatteten. In seinem Tagebuch hat er über dieses Wochenblatt sehr aufrichtig bemerkt: „Die Demokraten lasen das Blatt nicht, weil es reaktionär sei, die Reaktionäre aber nicht, weil es demokratisch sei.“ Mit eine Folge seines politischen Verhaltens war es vielleicht, dass, als mein Bruder um die Mitte des Jahres 1849, da seine Gesundheit es jetzt zu erlauben schien, sich zu einer erledigten Lehrerstelle meldete, seine Bewerbung keinen Erfolg hatte. Er empfand dies um so tiefer, als er Berücksichtigung zu finden erwartet hatte; er erkrankte bedeutend.

Ganz besonders gestaltete sich in dieser politisch so aufgeregten Zeit sein Verhältnis zu A. v. Maltzan. Dieser, ein entschiedener Aristokrat, hegte in der Politik, wie zum Teil auch in kirchlichen Dingen, Ansichten, die denen meines Bruders ganz entgegengesetzt waren. Aber das führte zwischen ihnen nicht zu einer Erkaltung, sondern nur zu einem innigeren Verhältnis. Nachdem die Differenz der Meinungen in dieser Beziehung einmal klar zu Tage lag, wurde v. Maltzans Haltung gegen meinen Bruder nur freier und herzlicher; er verweilte jetzt bisweilen Tage lang unter unserm Dache und schien sich recht heimisch bei uns zu fühlen. Zu früh entriss meinem Bruder diesen treuen Freund der Tod (11. Oktober 1851).

Inzwischen hatte mein Bruder fortgefahren, auch in rein wissenschaftlichen Fächern zu schriftstellern. Um die Mitte des Jahres 1847 gab er „Mecklenburg, eine naturgeschichtliche und geographische Schilderung heraus. Zu Anfang des Jahres 1850 erschien sein „Abriss der physischen Geographie, zunächst für den weiblichen Unterricht.“ Mein Bruder hatte nämlich seit dem Jahre 1847 angefangen junge Mädchen zu unterrichten, welche der hiesigen Töchterschule entwachsen, noch weitere wissenschaftliche Ausbildung suchten. Er widmete diesem Unterrichte außerordentliche Sorgfalt, und suchte bei seinen Schülerinnen besonders das eigene Nachdenken zu wecken oder zu fördern. In diesen Bestrebungen war er auch meistens glücklich, seine Schulerinnen verehrten ihn höchlich, wovon er die unzweideutigsten Beweise erhielt. Für ihn selbst aber war dieser Unterricht, obwohl er ihm bei seiner so sehr erschütterten Gesundheit oft große Anstrengung kostete, eine Art geistiger Erfrischung, welcher er später nur höchst ungern entsagen musste. — Jener Abriss der physischen Geographie ist ins Dänische, und nachdem mein Bruder 1859 eine neue, sehr vermehrte Ausgabe desselben besorgt hatte, auch ins Holländische übersetzt worden; nur in Deutschland hat die treffliche kleine Schrift weniger Beachtung gefunden.

Mit großem Erfolge wagte sich mein Bruder jetzt auch auf ein anderes Gebiet, als das der Naturwissenschaften. Mit Bedauern hatte er oft Gelegenheit gehabt zu bemerken, wie unbekannt im Allgemeinen die Mecklenburger mit der Geschichte ihres eigenen Vaterlandes waren. Er glaubte mit einen Hauptgrund dieser Erscheinung darin zu finden, dass es unter den vielen Werken, welche die Geschichte von Mecklenburg abhandelten, kein einziges gab, welches allgemeineres Interesse für diesen Gegenstand erwecken konnte. Rasch entschlossen, wie er war, legte er sofort die Hand ans Werk, und da ich ihm teils mit einer ziemlich ausreichenden Sammlung von Meklenburgicis, teils mit meinen durch längeres Studium der älteren Landesgeschichte erworbenen Kenntnissen aushelfen konnte, so brachte er in verhältnismäßig kurzer Zeit eine Geschichte von Mecklenburg zu Stande, die sowohl in Auswahl und Behandlung des Stoffes, als auch in der Darstellung alles Lob verdiente. Zu Anfang des Jahres 1855 erschien der erste und gegen Ende 1856 der zweite Teil; keine seiner Schriften hat sich einer so günstigen Aufnahme zu erfreuen gehabt, wie diese.

Im Sommer des folgenden Jahres 1857 badete mein Bruder abermals zu Krampas. Damals fasste er den Entschluss, der schönen Insel seinen Tribut als Schriftsteller darzubringen. Es gab zwar eine Anzahl neuerer Reise-Handbücher für die Besucher der Insel, aber eins war dürftiger und fehlerhafter als das andere. Mein Bruder entwarf eine treffliche Schilderung Rügens, nicht bloß in Bezug auf seine Naturschönheiten, sondern auch auf seine Geschichte, seine geognostische Bedeutung, seine Flora und Fauna. „Die Insel Rügen“ erschien im Jahre 1858, aber der Verleger dieses Werkchens hat sich den Vertrieb desselben so wenig angelegen sein lassen, dass diese Schrift meines Bruders nicht die Verbreitung gefunden hat, welche sie in hohem Grade verdient. Mein Bruder hatte 1857 geglaubt Rügen zum letzten Male besucht zu haben, aber er kehrte noch einmal im Jahre 1859 dorthin zurück, um in Krampas den immer gebrechlicher werdenden Körper durch das Seebad zu kräftigen. Er schrieb von dort: „bis zum 6. (August), ist es mir nur recht schlecht gegangen, seitdem etwas besser; mir ist aber doch noch immer so zu Mute, als wenn irgend eine spannende Feder aus meinein Körper herausgenommen wäre, und das Gehen, namentlich das Steigen, greift mich sehr an, weshalb ich meinen Aufenthalt hier lange nicht so nutzen kann, wie in früheren Jahren.“ Es war sein letzter (siebenter) Besuch der Insel, überhaupt seine letzte weitere Entfernung von Hause. Er erklärte, dass er bei seiner Schwäche und Gebrechlichkeit auswärts die Gemächlichkeit und Ruhe des Daheim zu sehr entbehre.

Schon seit dem Jahre 1857 litt mein Bruder an dem sog. Schreibfinger-Krampfe, der mit der Zeit so zunahm, dass er sich gewöhnlich der Bleifeder zum Schreiben bedienen musste. Erst nach Jahren, nachdem er sich an eine völlig gestreckte Haltung der Hand und Finger beim Schreiben gewöhnt hatte, konnte er auch die Feder wieder besser führen. Dennoch hat er in diesen Jahren, wo ihm das Schreiben so schwer fiel, 1860 seine Flora von Mecklenburg, und 1861 seinen „Abriss der mecklenburgischen Landeskunde“ ausgearbeitet. In letzterem Werke behandelt er Mecklenburgs Naturkunde, Geschichte und Topographie, und gibt*) darin gleichsam die Quintessenz dessen, was ein langjähriges, fleißiges Studium ihn über Mecklenburg gelehrt hatte.

*) Außer seinen größeren Werken hat mein Bruder auch für Zeitschriften eine Anzahl von Artikeln geliefert, namentlich in der „Zeitschrift des Vereins für deutsche Statistik,“ in der „Zeitschrift der deutschen geologischen Gesellschaft,“ im „Archiv für mecklenburgische Landeskunde“ u. a.

In den folgenden Jahren nahm mein Bruder mit neuem Eifer vorzugsweise seine geognostischen und petrefactologischen Studien wieder auf, indem er sich mit dem Gedanken an eine zweite völlig umgestaltete und dem vorgeschrittenen Standpunkte der Wissenschaft entsprechende Ausgabe seiner Geologie trug. Aber er stieß bei der Ausführung, wie er selbst gesteht (Archiv 19, 78), auf so große Schwierigkeiten, dass er sich entschloss wenigstens die Vorarbeiten dazu zu geben, und diese in einzelnen Artikeln im Archive niederzulegen. Nur zwei Artikel sind noch aus seiner Feder unter dem Titel „Beiträge zur Geognosie Mecklenburgs“ im Archive von 1865 und 1867 an die Öffentlichkeit getreten. Weiterhin zu erörternde Umstände hinderten ihn mit seiner gewohnten Raschheit in der Ausarbeitung vorzugehen; die übrigen Artikel werden Wohl in seinen Collectaneen begraben bleiben.

Die sechziger Jahre brachten, neben seiner zunehmenden Gebrechlichkeit, manches Trübe über meinen Bruder. Freunde starben ihm ab oder verließen ihn. Am Palmsonntage 1860 überraschte und erschütterte uns die Nachricht, dass unser geliebte Onkel G. Brückner zu Ludwigslust nach nur zweitägiger Krankheit dem Lungenleiden, gegen welches er 40 Jahre lang angekämpft hatte, am 30. März erlegen sei. Noch unter dem 25. März hatte er an meinen Bruder ein längeres Schreiben gerichtet, worin er ihm unter anderen über eine, von ihm kürzlich ausgeführte, schwierige und angreifende gerichtsärztliche Untersuchung berichtete, — die Section zweier des Gifttodes verdächtiger Leichen, die schon längere Zeit im Grabe geruht hatten; er ahnte nicht, dass in wenigen Tagen auch sein Leib eine Leiche sein werde. Mit welchen Empfindungen mein Bruder den Mann dem Leben entrissen sah, der ihm zweimal das seinige erhalten, brauche ich wohl kaum zu sagen.

Gegen die Mitte des Jahres 1863 verließ uns Fritz Reuter, um sich nach Eisenach überzusiedeln. Zu Ostern 1856 hatte dieser seinen Wohnsitz von Treptow nach Neubrandenburg verlegt und war hier bald ein vertrauter Freund meines Bruders geworden. Zu Reuters hochtragischer Dichtung „Keen Hüsung“ hat meines Bruders Geschichte von Mecklenburg (Th. 2 S. 608) den Anstoß gegeben. Mein Bruder verlor um so mehr in ihm, als Reuter, außer dem Verkehr mit unsern Verwandten, fast seinen einzigen Umgang ausgemacht hatte. Doch sollte dies Jahr meinem Bruder noch eine Freude und Genugtuung bringen. Am 16. Oktober 1863 erteilte ihm die Universität Greifswald das Doktordiplom honoris causa; Mecklenburg hat ihm nie eine offizielle Anerkennung gewährt.*) Lieb war ihm die Erteilung dieses Titels vorzüglich darum, weil sie der bisherigen Unsicherheit in der Titulatur auf den zahlreichen Briefen, die er empfing — sie schwankte zwischen Candidat, Literat und Privatgelehrter — ein Ende machte.

*) Von auswärts hatte mein Bruder Ehrenbezeugungen genug aufzuweisen. Viele Vereine hatten ihn zum Ehren- oder korrespondierenden Mitgliede ernannt: 1849 der naturwissenschaftliche Verein des Harzes; 1851 der Verein für Naturkunde im Hzth. Nassau; 1852 die Gesellschaft für vaterländische Naturgeschichte in Dresden; 1854 die k. k. geologische Reichsanstalt zu Wien; 1855 die société des sciences naturelles zu Luxemburg; 1858 die kaiserliche Naturforscher-Gesellschaft zu Moskau; desgl. 1858 die Wetterausche Gesellschaft für Naturkunde; 1863 der Verein für Naturkunde in Kassel; 1864 die physikalisch-ökonomische Gesellschaft zu Königsberg; 1865 die naturhistorische Gesellschaft zu Nürnberg; desgl. 1865 das freie deutsche Hochstift für Wissenschaften zu Frankfurt a. M. — Mein Bruder hätte sich mit allen diesen Ehren auf den Titeln seiner Schriften brüsten können, hat aber dieser Eitelkeit niemals gefröhnt.

Das Jahr 1865 raubte meinem Bruder ebenfalls einen trefflichen Freund und treuen Beistand in seinen geognostischen Studien, den Dr. v. Hagenow zu Greifswald, mit dem mein Bruder seit 20 Jahren in dem vertrautesten brieflichen und persönlichen Verkehr gestanden hatte; ein Brustkrampf führte plötzlich in der Nacht vom 17./18. Oktober dessen Tod herbei. Von Hagenow war schon seit dem Jahre 1857 erblindet, doch liegen auch noch nach diesem traurigen Ereignisse eine Menge Briefe an meinen Bruder vor, die v. Hagenow teils diktierte, teils eigenhändig mit Bleifeder geschrieben hat.

Auch im Jahre 1866 traf meinen Bruder ein empfindlicher Schlag. Er hatte bis dahin, wie oben bemerkt, an dem Unterricht junger Mädchen großen Gefallen gefunden, und durch die, wenn auch nicht bedeutenden Geldmittel, die er ihm gewahrte, war seine Lage sorgenfreier gewesen Jetzt wurde, um den Unterricht junger Mädchen aus den oberen Schichten der hiesigen Einwohnerschaft zu beschaffen, eine besondere Unterrichts-Anstalt eingerichtet. Da in derselben, außer dem andern wissenschaftlichen Unterricht, auch die französische und englische Sprache gelehrt wurde, in welcher mein Bruder nicht unterrichtet hatte, so wandten sich alle Schülerinnen der neuen Anstalt zu. Mein Bruder empfand den Verlust dieser ihm so lieben und gleichsam zum Bedürfnis gewordenen Beschäftigung sehr schmerzlich, das Leben wurde ihm immer mehr verbittert. Um den Ausfall in seiner Kasse zu decken, musste er jetzt zu schriftstellerischen Arbeiten, zum Teil auf Bestellung, seine Zuflucht nehmen; er lieferte Artikel für den Globus, für die Meyer'schen Ergänzungsblätter, für Otto Spamer in Leipzig, für das mecklenburg. Schul-Lesebuch; natürlich konnte er den eigenen Studien sich jetzt weniger widmen. Verdrießlichkeiten mit Verlegern und Redakteuren blieben nicht aus, — kurz, das Leben lastete immer schwerer auf seinem schwächlichen Körper.

Eine neue, von ihm sehr tief empfundene Kränkung, über die ich mich aber nicht näher auslassen mag, traf ihn um die Mitte des folgenden Jahres 1867. Da führte das Nervenfieber (der Typhus) über unsere Familie eine Katastrophe herbei, die meinem Bruder das Leben kosten sollte. Meine beiden jüngsten Töchter waren eben erst zu Verwandten nach Greifswald gereist, als der Telegraph zu Anfang des August meldete, dass die jüngste von ihnen am Nervenfieber erkrankt sei. Es gelang mir zwar in den nächsten Tagen die ältere von ihnen nach Neubrandenburg zurückzubringen, aber bereits am folgenden Tage kam auch bei ihr der Typhus zum Ausbruch. Sie lag ungemein schwer erkrankt danieder. Auch mein Bruder, der die Mädchen wie seine eigenen Kinder liebte, war in beständiger Aufregung und Angst. Unter solchen Umständen konnte am 21. September sein fünfzigster Geburtstag nicht so fröhlich und festlich begangen werden, wie wir es früher beabsichtigt hatten; doch besuchten wir Nachmittags mit mehreren Freunden die Ufer unserer schönen Tollense zum letzten Male.

Kaum erst fing unsere Kranke an sich etwas zu erholen, als auch ich zu Anfang des November vom Typhus ergriffen wurde. Nun stieg die Besorgnis bei meinem Bruder aufs Höchste, und die körperliche, wie die geistige Abspannung war bei ihm groß. Zu Ende Novembers erkrankte er, doch wie es schien, nur ungefährlich an seinen alten Unterleibs-Beschwerden. Auch raffte er sich noch einmal wieder auf und erschien an meinem Bett: wir sahen uns zum letzten Male. Denn bald nach Neujahr nahm seine Krankheit einen gefährlichen Charakter an. Er warf viel Blut aus, hörte auf irgend etwas zu seiner Stärkung zu genießen, seine Kräfte schwanden zusehends. Obwohl er gegen seine Umgebung noch Hoffnung auf Wiederherstellung äußerte, — schriftliche Anordnungen von ihm lassen auf das Gegenteil schließen — obwohl sein Puls bisweilen sich wieder zu heben schien, kam doch sein Ende mit sicherem Schritt herbei. Am 19. Januar Abends zeigte sich die eintretende Lungenlähmung, und er starb am folgenden Tage ohne schweren Todeskampf Nachmittags um 4 Uhr.

Mein Bruder war, abgesehen von Schwächen, wie wir sie alle teilen, ein durchaus reiner und edler Charakter. Lange Jahre andauernde beiden hat er mit Geduld und Ergebung getragen. Sein Leben war auf das Uneigennützigste der Wissenschaft geweiht; seine Arbeitskraft war groß, sein Fleiß unermüdlich. Vieles und reiches Wissen ist mit ihm zu Grabe getragen. Was er mit wehmütiger Vorempfindung am Schlusse von v. Hagenows Nekrolog aussprach, dass auch dieser ein neuer Beleg zu jenem alten Ausspruche sei, dessen Wahrheit schon so viele für die Wissenschaft begeisterte Männer schmerzlich empfunden hätten und noch empfinden würden: vita brevis, ars longa! — es ist auch an ihm in Erfüllung gegangen.

Neubrandenburg, den 26. April 1868.