Bei den Menschen der Urzeit

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1929
Autor: Heinz Karl Heiland, Erscheinungsjahr: 1929

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Ureinwohner, Naturvolk, Ainos, Japan, Bärenjagd, Höhlenmenschen, Tätowierungen, Kultur, Schnurrbart, Vollbart, Körperbehaarung, Kurilen, Sachalin, Jesso, Kamtschatka,


Die ewige schöpferische Allmutter Natur scheint die Weiterentwicklung einer Menschengruppe versäumt zu haben, die scheinbar einer früheren Schöpfungsperiode angehört, es sind dies die Ainos — die Haarigen. Dies Volt, das heute nur noch etwa achtzehntausend Köpfe zählt, stammt seiner Überlieferung nach aus einer Kreuzung zwischen Mensch und Tier, daher auch der Name Aino-ko, was dasselbe bedeutet. Diese Ainos oder Ainu sind die Ureinwohner der Inselgruppe, die wir unter dem Namen Japan kennen, und eins der seltsamsten Glieder des weitverzweigten Menschengeschlechts, ein Glied, das der grauen Vorzeit, der Zeit des vorgeschichtlichen, des Neandertalmenschen, anzugehören scheint. Viele der reinblütigen Ainos, deren Blut noch nicht mit dem ihrer Nachbarn, der Japaner, vermischt ist, sind heutigen Tags noch von einem Haarwald bedeckt. Von einem Haarwald, der so dicht ist, dass der Aino auf der Jagd vollkommen ohne Kleidung zu gehen pflegt. Die durch diesen Haarwuchs hervorgerufene Ähnlichkeit mit Tieren ist oft unglaublich, am meisten bei alten Männern, die ein abschreckendes, tierähnliches Aussehen haben. Die Wissenschaftler finden noch andere seltsame Eigentümlichkeiten, so zum Beispiel die, dass gewisse Knochen der Beine und Arme abgeplattet sind, eine Eigenart, die sich nur an den Überbleibseln der Höhlenmenschen Europas findet.

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Die Ainos sind ein harmloses, gutmütiges Volk, das trotz seiner großen Tapferkeit in fast tausend jährigen Kämpfen von den aus dem Südwesten vordringenden Japanern ebenso planmäßig ausgerottet wurde, wie die Indianer Nordamerikas durch die eindringenden Europäer. Wieviel Blutvergießen und wieviel Grausamkeiten umschließt wohl die Geschichte jener tausend Jahre! Noch heute finden sich in Nordjapan ungezählte gewaltige Grabhügel, unter denen sich in Haufen bunt übereinander geworfene Skelette der unglücklichen Ureinwohner befinden, die von den Japanern in blutigen Kämpfen niedergemacht wurden.

Jene endlosen Kämpfe sind ein Beweis dafür, dass der Geist, der Verstand über die rohe Körperkraft siegt. Ebenso wie sich der Mensch in altersgrauen Zeiten zum Herrn des Mammuts und des Höhlenbären und später der Büffels und des Elefanten machte, so unterwarfen die Völker, deren Gehirn besser entwickelt war, ihre weniger glücklichen Artgenossen. Zwar hat der Aino einen ziemlich großen Schädel, folglich auch eine zum mindesten normal große Gehirnmasse, aber sein Gehirn, das sich in der Jugend ganz regelrecht und schnell ausbildet, macht plötzlich in der Entwicklung Halt, der Aino bleibt auch im Alter mehr oder weniger ein Kind. Diese kindliche Gutmütigkeit bewirkt es, dass er jeden Fremden, besonders einen Fremden mit starkem Schnurr- oder gar Vollbart, außerordentlich freundlich aufnimmt und bereit ist, ihm jeden Dienst zu erweisen. Eine andere Eigentümlichkeit des Ainoblutes ist die, dass die Nachkommen von Ainos und Japanern in der zweiten oder dritten Generation aussterben, eine Tatsache, die von keinem anderen Volk bekannt ist. Ein Beweis, dass das Blut der Ainos von dem der anderen Völker außerordentlich verschieden sein muss.

Die geistige Schwäche der Ainos war ihren Besiegern, den Japanern, bekannt, und um aus dieser Schwäche noch mehr Vorteil zu ziehen, war es bis vor wenigen Jahren bei Todesstrafe verboten, einem Aino Lesen und Schreiben beizubringen, auf diese Weise wurde das ganze Volk noch mehr im Zustand des Halbtieres gehalten, als es ihm schon von Natur gegeben ist. Außerdem scheint es aber auch, dass die Ainos kaum bildungsfähig sind, denn in neuerer Zeit hat man verschiedene junge Leute nach Tokio gebracht und sie dort japanisch erzogen und gebildet, aber mit dem Erfolg, dass sie sofort nach ihrer Rückkehr in die Heimat wieder in das Leben eines Wilden zurückfielen und nur die Kenntnis der japanischen Sprache beibehielten.

Einen seltsamen Anblick bieten die kleinen Ainodörfer, die sich entweder zwischen die mächtigen Klippen am Rande des Meeres schmiegen oder Schutz suchen in den mächtigen, endlosen Waldungen des Innern der einsamen Inseln Jesso und Sachalin sowie des südlichen Kamtschatka und der Kurilen. Regellos fügen sich die zierlichen Häuschen in die Landschaft, in ihrer Bauart ebenso eigenartig wie die Gestalt und der Charakter ihrer Bewohner. Ein schweres Rahmenwerk aus Baumstämmen, nur vier Fuß hoch, bildet die Wände des Gebäudes. Dies Balkenwerk ist an der Außenseite mit dicken Bündeln von Schilf, an der Innenseite mit zierlich gebundenen einzelnen Schilfhalmen bedeckt, die das Mauerwerk vertreten. Über diesen niedrigen Wänden erhebt sich ein ungeheures spitzes Dach bis zur Höhe von acht Meter. Dieses Dach ist in liebevoller, kunstreicher Arbeit mit Stroh gedeckt, so kunstvoll, dass auf der langen Fläche des Daches lauter einzelne Terrassen entstehen, welche gegen die Spitze des Daches zu immer kleiner und kleiner werden. Die oberste Terrasse des Daches ist mit mühsam gesammelten, bizarr geformten Zweigen geschmückt, die eine Art geometrischen Musters bilden.

Jedes Haus besteht aus zwei getrennten Teilen, einem Vor- und einem Hauptraum, die durch eine Wand aus Lehm- und Schilfrohr geschieden sind. Der Vorraum, der nur fünf bis sieben Meter im Durchschnitt misst, dient als Aufbewahrungsort für den hölzernen Getreidemörser, für die Getreidevorräte, Netze, Rohrbündel zum Ausbessern des Daches und so weiter. Gegen die Tür und den Innenraum wird dieser Vorraum durch eine dicke Matte aus Schilfrohr getrennt. Der Hauptraum hat die Größe von etwa dreizehn Meter im Quadrat und erinnert in seiner Anlage an das, was wir von den Heimstätten der alten Germanen wissen. An einer Seite erhebt sich eine breite Feuerstätte, über der ein zierliches Balkenwerk angebracht ist, von dem der Kochtopf herniederhängt. Über dieses Balkenwerk ist eine feingewebte Matte ausgebreitet, die anscheinend die Aufgabe hat, den Rauch nicht senkrecht emporsteigen zu lassen, sondern ihn im ganzen Raum zu verteilen. Auf dieser Matte sammelt sich natürlich eine Menge Ruß an, der zu den bei den Ainos beliebten Tätowierungen dient. Kreuz und quer durch den Raum laufen schwere Balken, die den ganzen Raum in Quadrate teilen. Diese Balken sind die größte Gefahr für den unkundigen Gast, der in der ersten Zeit dauernd mit dem Kopf dagegen stößt, da sie sich nur etwa fünf Fuß über der Erde erheben. Die Schlafstätten befinden sich links vom Eingang in Form erhöhter Plattformen und können durch Matten, die über die erwähnten Balken geworfen sind, gegen den übrigen Teil des Raumes abgeschlossen werden. Für den Gast sind transportable breite hölzerne Bänke vorhanden, die mit den feinsten Matten bedeckt und an der Schmalseite des Feuers aufgestellt werden. Auch breitet die Hausfrau noch eins der kostbaren Bärenfelle über dies einfache Lager.

Da die Religion der Ainos nur eine rohe Verehrung der Natur ist, so sind auch ihre Götter einfach und primitiv. Den Hausgott stellen zehn dünne Stäbe dar, die links vom Eingang in die Wand gesteckt sind, ihre Rinde ist so abgeschält, dass sie an der Spitze des Stabes noch festsitzt und so in Streifen herunterhängt. Ein anderer Stab steckt in dem Fenster, das sich gegen Sonnenaufgang richtet, ferner ist ein siebzig Zentimeter hoher weißer Pfahl, von dem gleichfalls Spiralen von Rinde herabhängen, dem Feuer gegenüber an der Wand aufgestellt.

Die Hütten der Ainos, auf deren Herstellung dieses harmlos fleißige Volk so viel Mühe verwendet, sind für den Europäer kaum bewohnbar, da sie fast durchweg von einem durchdringenden aasartigen Fischgeruch durchzogen sind, einem Geruch, der für den Europäer den Aufenthalt zu einer Qual machen kann. An seltsamen Gebräuchen herrscht bei diesem Volk, das vollkommen außerhalb der übrigen Menschheit steht, kein Mangel. So werden zum Beispiel die Frauen tätowiert, denn der Aino empfindet es offenbar als einen Mangel, dass nur die männlichen und nicht auch die weiblichen Geschöpfe über einen Bartwuchs verfügen. Daher werden den jungen Mädchen schon in der frühesten Jugend feine Messerschnitte in der Oberlippe beigebracht, diese werden mit Ruß und Pflanzensaft eingerieben, so dass später ein feiner blauer Strich zurückbleibt. Diese Prozedur wird im Laufe der Jahre so oft wiederholt, bis die behandelte Ainoschönheit einen richtigen blauen Schnurrbart besitzt, dessen Enden sogar unternehmungslustig in die Höhe gedreht sind. Auch auf dem Körper werden häufig Tätowierungen, bestehend aus geometrischen Mustern, angebracht, aber diese ganze Kunst wurde von der japanischen Regierung verboten, denn auch der Japaner darf sich heutzutage nicht mehr tätowieren lassen, was bis vor zwanzig bis dreißig Jahren in ausgedehntem Maße üblich war. Infolgedessen sieht man in der Hauptsache solche Tätowierungen nur noch bei alten Frauen, wo sie mehr als grotesk wirken.

Weniger harmlos ist eine andere unausrottbare Sitte der Ainos, der Trunk. „Es ist ein Spruch von alters her, wer Sorgen hat, hat auch Likör!“ An diesen alten Vers Wilhelm Buschs musste der Verfasser häufig denken, wenn er mit Ainos in Berührung kam, denn ein melancholischeres und auch in seiner ganzen Geschichte unglücklicheres Volk als die Ainos sind kaum denkbar. Nur in der Trunkenheit vermögen sie die jahrtausendealte Bedrückung, den Verlust all ihrer nationalen Güter, ihres Landes, ja sogar ihrer Schriftsprache zu vergessen. Eine andere Erklärung für diesen Hang ist bei diesem sonst leidenschaftslosen Volke kaum denkbar. Die Neigung zum Alkohol ist so ausgeprägt, dass das Trinken sogar als die hauptsächlichste religiöse Handlung gilt. Je betrunkener ein Aino ist, desto wohlgefälliger ist er den Göttern. Die Ainos bereiten selbst ein stark berauschendes Getränk aus den Wurzeln eines Baumes und aus Getreide und Reis, aber der japanische „Sake“, der scherryartige Reisbranntwein, ist ihr Ideal, und es ist anzuerkennen, dass dieses arme Volk selbst durch diese Leidenschaft von seiner Ehrlichkeit und seiner Abneigung gegen jede Lüge nicht abzubringen ist.

Das seltsamste Charakteristikum des Ainovolkes ist sein Verhältnis zu dem stärksten Raubtier des Landes, dem schwarzen Bären. Dieser Bär ist zwar nur von Mittelgröße, aber er ist einer der gefährlichsten seiner Art. Trotzdem greifen ihn die sonst gutmütigen und harmlosen Ainos in einer Weise an, die auch den mutigsten Jäger erschauern lassen muss. Der Ainojäger versucht zunächst den Bären durch Lärm aus seiner Höhle herauszutreiben. Gelingt dies nicht, so kriecht er ohne Zaudern, nur mit einem Messer bewaffnet, in die Höhle hinein und versucht das schwarze Ungetüm mit dieser Waffe so zu verwunden, dass ihn das Tier ins Freie verfolgt. Hier erwartet ein zweiter Jäger den Bären mit Bogen und Pfeilen und schießt einen vergifteten auf ihn ab. Da dies Gift mehrere Minuten braucht, bis es seine Wirkung tut, müssen die beiden Jäger so lange den Angriffen des Bären durch Geschwindigkeit und Gewandtheit ausweichen. Wird das Fleisch des erlegten Tieres rings um die Pfeilwunde weggeschnitten, so ist das übrige Fleisch genießbar.

Seltsam ist es nun, dass dieselben Ainos, die den Bären als Fleisch- und als Pelzlieferanten verfolgen, ihn gleichzeitig als Gott verehren. Um jeweils ein Objekt für diese Verehrung zu haben, fangen die Jäger alljährlich einen ganz jungen Bären, indem sie dessen Mutter töten. Dieser kleine Bär wird ins Dorf geschafft und dort mit Milch aufgezogen. Später dient er dann als Spielgefährte für die Jugend, bis er in die Flegeljahre kommt und als Hausgenosse zu rau und gefährlich wird. Er wird nun in einen starken Käfig gesteckt und darin sehr gut behandelt und bis zum Herbst des nächsten Jahres gefüttert, zu welcher Zeit er vollkommen ausgewachsen ist, so dass das „Fest des Bären“ gefeiert werden kann. Der Hauptverlauf dieses Festes ist der, dass von den Männern allerhand langsame Tänze getanzt und melancholische Lieder gesungen werden, dann sucht man den Bären durch Schreie zu erregen. Sobald dies gelungen ist, verwundet ihn der Häuptling durch einen Schuss mit dem Pfeil, so dass der Bär in Wut gerät. In diesem Augenblick werden die Stäbe des Käfigs aufgehoben, und der Bär stürzt heraus. Nun dringen die Ainos von allen Seiten auf ihn ein und suchen ihn mit verschiedenen Waffen so zu treffen, dass an der betreffenden Stelle Blut fließt, da dies Glück bringen soll. Sobald der Bär erschöpft niederstürzt, wird ihm der Kopf abgeschnitten und, auf einen Pfahl gesteckt, angebetet, während das Fleisch des Bären unter wildem Lärm an alle Teilnehmer verteilt wird.


Aino in seinem Kahn.

Ein Ainodorf. Die zwei Männer in der Mitte des Bildes begrüßen sich mittels aufgehobener Handflächen.

Reinblütige Ainos, deren Frauen auftätowierte Bärte tragen, während die Männer am ganzen Körper mit einem Haarfell bewachsen sind.

Bärenschädel, zur Anbetung von den Ainos auf Pfähle aufgesteckt.

Ainofamilie vor ihrer Hütte. Die Frau zur Linken zeigt den üblichen auftätowierten Schnurrbart, der ihr ein männliches Aussehen verleiht.

Reinblütige Ainos, deren Frauen auftätowierte Bärte tragen, während die Männer am ganzen Körper mit einem Haarfell bewachsen sind.

Reinblütige Ainos, deren Frauen auftätowierte Bärte tragen, während die Männer am ganzen Körper mit einem Haarfell bewachsen sind.

Aino in seinem Kahn

Aino in seinem Kahn

Ainofamilie vor ihrer Hütte. Die Frau zur Linken zeigt den üblichen auftätowierten Schnurrbart, der ihr ein männliches Aussehen verleiht.

Ainofamilie vor ihrer Hütte. Die Frau zur Linken zeigt den üblichen auftätowierten Schnurrbart, der ihr ein männliches Aussehen verleiht.

Bärenschädel, zur Anbetung von den Ainos auf Pfähle aufgesteckt.

Bärenschädel, zur Anbetung von den Ainos auf Pfähle aufgesteckt.

Ein Ainodorf. Die zwei Männer in der Mitte des Bildes begrüßen sich mittels aufgehobener Handflächen.

Ein Ainodorf. Die zwei Männer in der Mitte des Bildes begrüßen sich mittels aufgehobener Handflächen.