Aus einem Hungerjahr (1816)

Unterhaltung am häuslichen Herd
Autor: Gutzkow, Karl (1811-1878) deutscher Schriftsteller, Dramatiker und Journalist, Erscheinungsjahr: 1862
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Karl Gutzkow, Hungerjahr 1816, Missernte,
Die fast über den ganzen Kontinent ausgedehnte Missernte des Jahres 1816 hat wohl kaum in irgendeinem Lande so namenloses Unglück nach sich gezogen als in Frankreich, wo unter der von den Alliierten eingesetzten „glorreichen“ Regierung Ludwig's XVIII. die arbeitenden Klassen mit Steuern jeglicher Art erdrückt waren, die Prätensionen der aus aller Herren Ländern zurückgekehrten Emigranten sowie die des römisch-apostolischen Klerus alles Maß überschritten, die Auflösung der alten Armee die Unzahl von Arbeitsuchenden vermehrte und das Gouvernement, von der leidenschaftlichsten Rachbegierde beseelt, nebenbei durch seine Prévôtal-Gerichtshöfe, und permanenten Kriegsgerichte das Blut der Patrioten in Strömen fließen ließ und die Bevölkerung in Angst und Schrecken hielt. Die notwendigsten Lebensmittel waren nach ihren Preisen für die meisten Menschen unerschwinglich, so dass in den Provinzen vollständige Hungersnot eintrat, der endlich im Frühjahr 1817 die Energie des Finanzministers Humann durch Einkäufe von Getreide und Kartoffeln im fernen Ausland zu jedem Preis eine leidliche Grenze setzte. Die Hauptstadt Paris wurde von alledem weniger berührt, da es noch im Prinzip einer jeden Regierung Frankreichs gelegen hat, deren Einwohnern Lizenzen zu gewähren; in den Provinzen aber herrschten Elend, Not und Verzweiflung in so hohem Grade, dass für ein Stück Brot Unschuld und Ehre aus den gebildetsten Ständen feil waren.

Ich lebte in jenem traurigen Winter in einer der bedeutendsten Provinzialstädte Frankreichs, war finanziell gut gestellt und hatte meinen Mittagstisch in einem Hotel mit einem gewählten Kreis von ehemaligen höhern Offizieren, Beamten, Kaufleuten, Gelehrten und Particuliers zu dem Abonnementspreis von 60 Francs monatlich, die wir aber in Übereinstimmung mit dem Wirt zu 100 Francs erhöhten unter der Bedingung, dass wir obendrein mit ein paar Gerichten weniger uns begnügen wollten, dagegen aber ein jeder von uns allabendlich ein großes Brot geliefert erhalten müsste; mit diesem und einem Messer versehen, verteilten wir uns alsdann in den Straßen, um Personen jedes Alters und Geschlechts zu sättigen, die gewiss früher nie den Hunger gekannt hatten und nun sich an den Bettelstab gebracht sahen.

Ohne an eine bestimmte Beschäftigung gebunden zu sein, übernahm ich das Ordnen und Katalogisieren vieler tausend Bände, die seit den Stürmen der ersten Revolution aus Klöstern und öffentlichen Bibliotheken in einem abseits gelegenen Magazin aufgespeichert waren und dort unter Schutt und Staub sinnlich vergraben lagen. Ich brauchte Handarbeit zur Hilfe und so wurde zu dem Zweck von dem damaligen Eigentümer der Bücher aus Hunderten von Arbeitsuchenden ein ehemaliger Wachtmeister der Großen Armee, Namens Mögling, Elsasser von Geburt, mit 1 Franc täglichem Lohn angenommen. Zwanzig Sous! nicht das nötige Brot war dafür zu erlangen und doch schätzte sich dieser Mann glücklich, nach langem vergeblichen Bemühen wenigstens einigen Verdienst gefunden zu haben. Man darf mir glauben, dass ich aus eigenen Mitteln ihm Zuschuss gewährte, und das um so lieber, als er während seiner vieljährigen Feldzüge sich schöne Sprachkenntnisse erworben hatte und mir nicht allein treu und fleißig, sondern auch wahrhaft nützlich zur Seite stand.

Höchst interessant für mich waren seine gelegentlichen Mitteilungen aus seiner während der Schreckensjahre von 1793 — 95 in Paris zugebrachten ersten Jugendzeit und seiner dann begonnenen vieljährigen militärischen Laufbahn, während welcher er bei der leichten Kavallerie die höhern Unteroffiziersgrade erlangt und fünfzehn Verwundungen davongetragen hatte; zu seinem Unglück war keine der letztern schwer genug, ihm Aufnahme im Invalidenhaus zu verschaffen, sodass er auf die Ansprüche einer Pension oder einer Zivilanstellung angewiesen blieb, was für ihn, den ehemaligen Soldaten der Napoleonischen Armee, aber damals, trotz seiner glänzenden Zeugnisse, nicht Beachtung finden konnte und durfte. So musste denn der ehemalige Wachtmeister und der berühmten Braven einer jetzt Handlangerdienste thun, um nur notdürftig das Leben zu fristen.

Bei allem Interesse, das mir der Mann einflößte, empfand ich doch manchmal eine unwillkürliche Scheu vor ihm; denn — mit sichtbarer Freude blickte er auf die Schauerszenen der Schreckenszeit zurück, rühmte sich, jubelnder Zeuge der Hinrichtung der unglücklichen Königsfamilie und anderer Opfer des Terrorismus gewesen zu sein und verhehlte keineswegs, die wirklichen oder vermeintlichen Rechte des Siegers in Italien, Deutschland, Spanien, Portugal u. s. w. jederzeit in vollem Maße geltend gemacht zu haben. Da nun in letzterer Beziehung die leichte Kavallerie — Husaren, Chassseurs à cheval, Dragoner u. s. w. — namentlich gefürchtet gewesen ist, so musste ich ihn vielfach mit Schuld beladen glauben. Doch sühnte er augenblicklich seine etwaigen frühern Vergehen durch das beste Betragen und eine musterhafte Ehrlichkeit, welche zu beweisen ihm hier Gelegenheit genug geboten war.

So arbeiteten wir etwa vier Monate zusammen, bis wohin mein Katalog im Manuskript fertig war, der Ex-Wachtmeister nicht mehr beschäftigt werden konnte und nun seine Entlassung erhielt. Die öffentlichen Verhältnisse hatten sich in der Zeit nicht günstiger gestaltet und ohne Erfolg blieben nach wie vor des Mannes erneute Bewerbungen um sein gutes Recht. Da erschien er eines Morgens in meiner Wohnung, mir anzukündigen, dass er den letzten Versuch machen, nochmals nach Paris wandern, sich persönlich dem Kriegsminister als Halb-Invaliden vorstellen und um Versorgung nachsuchen wolle. Er hatte mich lieb gewonnen, schied unter Tränen von mir und empfing mit meinen Segenswünschen einen Zehrpfennig auf den weiten Weg.

Etwa acht Tage später brachten die öffentlichen Blätter des Departements die Mitteilung, dass auf der Landstraße nach Paris ein Handwerksbursche von einem einzelnen Mann angefallen, zu Boden geschlagen und seiner sämtlichen Habe beraubt worden wäre. Ersterer sei nachher aber doch noch wieder zur Besinnung gekommen und habe sich so weit erholt, um bis nach dem nächsten Dorfe kriechen, den dasigen Gendarmerieposten von seinem Unglück in Kenntnis setzen und eine ungefähre Beschreibung des Räubers geben zu können. Dieser sei denn auch bald eingeholt, von dem Beraubten mit Bestimmtheit als der Täter recognoscirt und darauf den betreffenden Behörden abgeliefert worden. Angeklagter, vor das Prévôtalgericht gestellt, habe seine Tat unumwunden eingestanden als Resultat des Hungers und der Verzweiflung, worauf das Gericht die Todesstrafe über ihn ausgesprochen und er diese auch sofort unter dem Beil der Guillotine erlitten habe. Der Hingerichtete Raubmörder war kein anderer als mein Hilfsarbeiter, der ehemalige Wachtmeister Mögling.

War nun das obenerwähnte unwillkürliche Grauen, das mich von Zeit zu Zeit in der Gesellschaft dieses Mannes beschlich, das unbestimmte, dunkle Vorahnen einer ihn an das Messer liefernden furchtbaren Tat, die freilich die höchste Not milderte und von einem Geschworenengericht nur mit höchstens zehn Jahren Galeere geahndet worden wäre — oder war es die wohl infolge seiner so rücksichtslos geäußerten politischen Gesinnungen und Ansichten in mir aufgetauchte Ahnung von vielleicht schon früher, während der Revolutions- und nachfolgenden Kriegszeit, wenn auch nur im rohen soldatesken Übermut, von Mögling verschuldeten Verbrechen oder Vergehen, welche jetzt nun — durch das unverhältnismäßig schwere Strafmaß für die letzte verzweiflungsvolle Tat gleichsam mitgesühnt wurden? Ich konnte sein Ende nie als eine Strafe nur für seine letzte Tat betrachten. W. Z.

Aus: Unterhaltung am häuslichen Herd. Dritte Folge. Zweiter Band. Herausgegeben von Karl Gutzkow (1811-1878) deutscher Schriftsteller, Dramatiker und Journalist. 1862

Karl Gutzkow (1811-1878) deutscher Schriftsteller, Dramatiker und Journalist

Karl Gutzkow (1811-1878) deutscher Schriftsteller, Dramatiker und Journalist