Aristokratie oder Demokratie?

Autor: Börne, Carl Ludwig (1786-1837)
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Aristokratie, Gesellschaft, Demokratie, Aristokraten, Verfassung, Politik, Börne, Aristoteles, Herrschaft der Besten
134. Aristokratie oder Demokratie? – Das ist der Rechtsstreit unserer Tage. Nur nehme man diese Worte nicht in der gellenden Bedeutung, wie sie die Leidenschaft und das Feldgeschrei der Kämpfenden ausdrückt, sondern in dem reinen und gemäßigten Sinne, den ihnen die Wissenschaft gibt. List und Bosheit haben auch die Fürstlichkeit in Beschlag genommen, sich anstellend, als werde ihr Recht streitig gemacht; aber die redlichen und verständigen Anhänger der Demokratie haben nie gefragt: soll es Fürsten geben? sondern: soll der Fürst der Fürst der Aristokratie oder der Fürst des Volkes sein? Nicht so leicht, als wohl viele glauben, ist es, diesen Zweifel zu lösen. Soll man die Erfahrung zu Rate ziehen? Die Erfahrung ist auch eine Schmeichlerin und spricht zu jedem, wie er es gern hört. Die Aristokraten können ihre Ansicht mit folgenden Gründen verteidigen. „Die edelsten, kräftigsten, geistreichsten und tugendhaftesten Menschen haben zu jeder Zeit eine Demokratie gewünscht; das ist der stärkste Grund – ihrer Verwerflichkeit. Die edlen Menschen sind nur immer in geringer Zahl, und was für sie gut ist, kann daher für die Menge nichts taugen. Daß begabte Menschen, welches auch der Vorzug sei, der sie über andere erhebt – Genie, Talent, Kunstfertigkeit, Mut, Seelenstärke, Rednergabe, Gewandtheit, Beharrlichkeit, wissenschaftliche Erkenntnis – die Demokratie wünschen, ist so verzeihlich als natürlich; denn nur bei einer solchen Ordnung der Dinge erlangt jeder den Platz, den ihm die Natur angewiesen, wo er seine Kräfte nach innen und außen mit der größten Freiheit entwickeln und seinen Platz in der bürgerlichen Gesellschaft bis zu seinem Werte steigern kann. Was soll aber alsdann mit den Mittelmäßigen und Schwachen geschehen, die zu jeder Zeit und in jedem Volke die Mehrzahl bilden? Soll man sie der Minderzahl aufopfern? Soll man die Unbemittelten an Geist und Kraft, wie es in den demokratischen Staaten des Altertums geschah, zu Heloten herabwürdigen oder als verächtlichen Kliententroß den Geistesaristokraten nachziehen lassen? Ist die Aristokratie des Adels verwerflich, so ist es die Aristokratie des Talentes noch mehr. Der Adelsstand ist nie so geschlossen, daß die Niedergebornen nicht hineinkommen könnten; Glück; Verdienste, die Gunst des Fürsten, können auch den Niedrigsten erheben. Aber die Geistesaristokratie ist durchaus unzugänglich, in ihr herrscht der blinde Zufall der Geburt, die Gunst der Natur kann weder verdient noch erbettelt werden. Bei aristokratischen Verfassungen, wie sie noch in den meisten Staaten Europens gefunden werden, wo die bürgerliche Gesellschaft in Stände zerfällt, werden die schwachen oder unbehülflichen Bürger jeder von dem Stande, dem er angehört, getragen, beschützt, befördert. Den verdienstlosen Hofmann schützt der Hof, den armen Edelmann der Adel, den geistlosen Gelehrten die Fakultät, den unfertigen Handwerker die Zunft, und so jede Körperschaft ihre Mitglieder. Auf diese Weise bestehen alle, keiner geht zu Grunde, und selbst die Geistesaristokraten bestehen; denn ist es ihnen auch nicht verstattet, die Vorrechte auszuüben, mit welchen sie die Natur belehnte, so haben sie doch mit den übrigen gleiche Rechte, und ist auch der Ruhmbegierde nicht jeder hohe Preis hingegeben, so steht es ihr doch frei, in den ihr angewiesenen Grenzen nach dem Höchsten zu streben. Jeder Edelmann kann die höchste Ehrenstelle, jeder Beamte das wichtigste Amt erlangen; jeder Kaufmann kann sich zum reichsten, jeder Handwerker zum gesuchtesten, jeder Gelehrte zum geachtetsten, jeder Soldat zum Feldherrn, hinaufschwingen. Ist diese Ordnung der Dinge, wo nur Wenige wenig gehindert werden, um keinen ohne Wirkungskreis zu lassen, nicht jener andern vorzuziehen, wo die Mehrzahl von der Minderzahl verdrängt wird? In demokratischen Verfassungen, wo das Volk in Individuen zerfällt, hat jeder, wohin er auch seine Kräfte richte, mit dem ganzen Volke zu kämpfen; wenn aber die Staatsgesellschaft in Stände geschieden ist, hat man nur die Mitbewerbung der Standesgenossen zu ertragen. Soll man nun, um einiger Seiltänzer willen, die gewohnt sind, ohne Schwindel über schmale Höhen zu gehen, alle Brustlehnen abbrechen, welche den Taumelnden vor dem Abgrunde schützen? Soll man um einiger Schwimmer willen keine Brücken bauen? Soll man um einiger Starken und Mutigen willen, die sich bei Schlägereien durchzuprügeln, die sich gegen Räuber und Diebe zu schützen wissen, die Polizei abschaffen und Tore und Mauern der Städte, welche die Wehrlosen schützen, niederreißen? ... Und bis jetzt haben wir bloß von den Individuen gesprochen, welche einen Staatsverein bilden; betrachtet man aber den Staatsverein als ein Gesamtwesen, als einen selbständigen Körper, so ergeben sich die Vorzüge, welche eine aristokratische Verfassung über eine demokratische hat, noch viel deutlicher. Ruhe, Sicherheit und lange Dauer der Selbständigkeit genießen nur aristokratische Staaten; Ehrgeiz, Habsucht oder Zerstörungstrieb können sich da nie über einen gewissen Kreis erstrecken. Gewalttätigkeiten der Fürsten gegen Volk und Adel, Verschwörungen des Adels gegen Fürst oder Volk, Volksbewegungen, Meutereien der Soldaten, Aufstände unter Zunftgenossen, Aufruhr der Studenten, waren in der alten Zeit eigentlich häufiger als jetzt; da aber solche Unruhen immer nur ein Standesinteresse zum Grunde hatten, mochten sie, und da sie die übrigen vereinigten Stände gegen sich hatten, konnten sie sich nie über den ganzen Staat verbreiten. Aber in unsern Tagen muß jede Soldatenmeuterei, jeder Studentenauflauf die Regierungen erschrecken. Nicht etwa, als sei anzunehmen, daß solche Empörungen häufiger als sonst in staatsverbrecherischen Absichten unternommen würden – deren Ursprung mag noch eben so örtlich und deren Zweck ebenso beschränkt sein als damals. Aber die gegenwärtige Lage der Dinge macht solche Unternehmungen verderblicher; weil nämlich die Stände nicht mehr isoliert genug sind, muß der elektrische Funke, der durch keine Nichtleiter aufgehalten wird, den ganzen Staat durchdringen und mehr oder minder erschüttern.“ ... Die Demokraten können diese und alle übrigen Gründe, welche die Aristokraten noch im Hinterhalte haben, mit wenigen Worten widerlegen:

„Es ist gar nicht die Frage, ob es eine Aristokratie geben solle oder nicht; die Natur selbst hat bejahend entschieden. Die Frage aber ist, ob die Aristokratie eine unbewegliche oder eine bewegliche sein soll.“

Carl Ludwig Börne

Carl Ludwig Börne