Aphorismen und Miszellen. 262 bis 268.

Autor: Börne, Carl Ludwig (1786-1837)
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262. Man glaubt, daß der Offenbacher Staatsmann für Deutschland die ausschließliche Nutznießung der literarischen Angeberei habe, man irrt aber, so ist es nicht. Es gibt unter den periodischen Schriftstellern noch andere arme Waisenkinder, die, sooft sie ihr periodischer Hunger befällt, sich schreiend an ihre Pflegemutter Polizei wenden und um Brot betteln. Diese Herren, in ihren Beurteilungen politischer, historischer, ethischer und religiöser Werke begnügen sich nicht, die Bücher zu tadeln und ihre eigene Ansichten auszusprechen, sondern sie erröten nicht, die Achtsamkeit der Polizei auf solche Bücher zu wenden und sie zum Gebrauche ihrer Macht aufzufordern. Solche Schelme dürfen sich nicht beklagen, wenn sie den Verdacht erregen, daß ihre gedruckten Angebereien schon als Handschrift ihre Bestimmung gefunden und daß sie sie nur haben drucken lassen, um ihre Aufsätze um einige Zeilen und ihr Honorar um einige Batzen zu vermehren. Der Pranger diesen Schändlichkeiten! Unsere Freiheit wird genug besteuert, es ist genug an den Zehnten, die man auf jedes Gefühl, auf jeden Gedanken legt; noch mit freiwilligen Gaben sich zuzudringen, ist eine lächerliche und verderbliche Großmut. Nur solche Schriftsteller können der Zensur, dieser türkischen Kopfsteuer, hold sein, welche diese Steuer nie treffen kann. So wird in der Jenaer Literaturzeitung (September 1824) das Werk Bignons „Les Cabinets et les peuples“ in dessen deutscher Übersetzung beurteilt. Der Kritiker ist anderer Meinung als Herr Bignon – das muß ihm erlaubt sein. Er spricht seine Meinung mit dem anmaßenden Geschrei derjenigen aus, die darauf trotzen, daß ihr Glauben unter dem Schutze der Artillerie und der Gendarmerie steht – auch das mag ihm verziehen werden; es ist die Bestimmung der Hofhunde, zu bellen, dafür werden sie gefüttert. Aber am Schlusse seiner Kritik sagt er: „Der Band enthält übrigens manches, welches einer ängstlichen Bücherpolizei wohl so bedenklich scheinen könnte, daß sie ihn lieber ganz verbieten möchte.“ – Das darf ihm nicht frei hingehen. Die Konjunktive könnte und möchte machen uns nicht irre; das ist diplomatischer Stil, und in die Sprache des gemeinen Lebens, nämlich der Aufrichtigkeit, übersetzt, sind solche Konjunktive reine Optative. Die Redaktion der Jenaer Literaturzeitung entehrt sich, wenn sie solche kritische Angebereien nicht bloß aus Unachtsamkeit anstimmt.

263. „Les corps (constitués) n'ont point d'âme“ – sagt Lord Coke, und das Echo der Erfahrung ruft dieses Wort hundertfach zurück. Sooft die Feinde in das Land kamen, wer war es, der den Siegern am weitesten entgegenging, sie am ehrerbietigsten empfing, sie am freundlichsten begleitete, ihnen am niederträchtigsten schmeichelte, ihnen den blutigen Weg der Schlachten am sorgfältigsten säuberte, ihnen den warmen Ofen, das weiche Bett, den gedeckten Tisch, den vollen Becher vorbereitete und so dem Vaterlande und dem angestammten Fürsten zuerst und am offensten die schuldige Treue brach? Wer tat dieses? Das taten die Staatskörperschaften, die Regierungsbehörden, die fürstlichen Statthalter, die Bürgermeister, und wenn einer aus dem Volke ein Wort des Unmuts auch nur zwischen den Zähnen murmelte, donnerte man ihm zu: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht. Als Napoleon Italien, Holland, die Hansestädte nicht durch das Recht friedlicher Verträge, sondern gewalttätig mit Frankreich vereinigte, wer unterwarf sich ihm zuerst, wer pries am lautesten das Glück der neuen Herrschaft? Das taten die gesetzgebenden Körper, die Senate, die Landesstellen und alle jene einzelnen Gewalthaber, die im Glücke sich die Freunde der Fürsten und bei trockenem Wetter sich die Dämme nennen, welche den Thron gegen die Wogen der Demokratie schützen. Man klagt – und nicht ohne Grund – in unsern Tagen werde die Heiligkeit der Legitimität von manchen verkannt, das göttliche Recht der Fürsten in Zweifel gezogen, bestritten, verletzt. Aber, wenn dieses geschieht, wer anders hat das Übel verschuldet als die selbst, welche klagen? Die Notwendigkeit einer erblichen Herrschergewalt ist das Erzeugnis einer tiefen Berechnung, die nur der denkende Mensch, nicht die gedankenlose Menge anzustellen fähig ist. Nur allein jener begreift es, daß es eine politische Religion, daß es ein höchstes, schaffendes, erhaltendes und richtendes Wesen im Staate geben müsse; aber das Volk hält sich am baren Vorteil des Augenblicks. Wer ihm sein Leben, sein Eigentum, seine Gewerbe, seine Vergnügungen schützt, der ist sein Fürst. Aber bei der heutigen Art, das Land gegen die Feinde zu verteidigen, werden auch die besiegten Bürger in ihren Vorteilen und Genüssen nicht gestört; wie kann da die Liebe zum angestammten Fürsten in ihrer Stärke bleiben? Soll die Ehrwürdigkeit der Legitimität ungeschwächt erhalten werden, müssen die Regierungen in ihren vom Feinde überzogenen Staaten alle Bande der bürgerlichen Gesellschaft auflösen, damit das Volk in seinem Fürsten alles verliere und nur durch seine Rückkehr wieder alles gewinne.

264. Napoleon war ein Gewitter, welches die schwülen Südländer erfrischte; aber der herbstliche Teil der Welt bedarf eines Winters, um zu erstarken. Wir begriffen das wohl, wären wir nicht so hausbackne, wirtschaftliche und nutzsüchtige Menschen, daß wir um wenige Tage des Kelterns willen einen ewigen Herbst ertrügen mit seinem Nebel, seiner Naßkälte, seinen unfahrbaren Wegen, seinen unerquicklichen Winden, seinen Drohungen und aller seiner Zweideutigkeit. Um Wintertage flehet, das sind eure Messiaden. Denn nur nicht einen Messias! Sooft noch ein Erlöser die Welt befreite, war das Lösegeld zu hoch für den Dienst, weil die Zeit den freien Zins der Dankbarkeit immer in einen ewigen Tribut der Furcht verwandelt.

265. „Wohl kein Mensch, der dieses Namens würdig ist, wird den Lobredner der Sklaverei machen wollen; jeder wird wünschen, daß sie von der Erde verschwinde. Aber dieses ist das Werk der Zeit. Die Zeit vollbringt gelinde, was ein ungeduldiger und fanatischer Liberalismus mit Gewalt verrichtet.“ Daß man nicht einmal so vorsichtig ist, dem altväterischen Adam ein modisches Kleid zu machen! Es ist wahr: sie haben nichts gelernt und nichts vergessen – sie reden noch immer mit uns, wie sie früher geredet, und verschweigen noch jetzt, was sie immer verschwiegen. Sie wollen uns zu horazischen Bauern machen, die geduldig am Ufer auf- und abgehen und darauf warten, daß der Strom ablaufen werde. Sie wollen der Freiheit den Gang eines Stundenzeigers geben, über welchem, ehe er sein Ziel erkriecht, der Sekundenzeiger des Despotismus viele tausend Male herfährt. Wir sollen die reifen Früchte nicht brechen, sondern warten, bis sie verfault von den Bäumen fallen. Die Zeit macht das Korn reif, aber sie pflügt nicht; die Zeit hat uns immer betrogen, wir borgen nichts mehr auf ihre Wechselbriefe; die Zeit ... Doch man wird es müde, für die lebendigen Meinungen, die nicht hervortreten dürfen, nur immer ihre leblosen Bilder zu zeigen.

266. Die Regierungen, welche Verschwörungen anzetteln, um solche kund zu machen und ihren Argwohn zu rechtfertigen, ahmen hierin dem berühmten italienischen Arzte Cardano nach. Dieser hatte sich abergläubisch das Horoskop seines Lebens gestellt und starb in seinem 75. Jahre eines freiwilligen Hungertodes, um sein vorhergesagtes Sterbejahr nicht zu überleben.

267. Einst hatte Rom Schauspieler eingeführt, um die Götter zu versöhnen, daß sie der Pest Einhalt tun. Hätten wir keine Quarantäne, dann stände es schlimm um unser Leben; denn wir könnten mit allen unsern stehenden und wandernden Bühnen keinen Schnupfen heilen.

268. Als Pythagoras seinen bekannten Lehrsatz entdeckte, brachte er den Göttern eine Hekatombe dar. Seitdem zittern die Ochsen, sooft eine neue Wahrheit an das Licht kommt.