Aphorismen und Miszellen. 223 bis 230.

Autor: Börne, Carl Ludwig (1786-1837)
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223. Einer jener Kreuzfahrer, die es dem Thronhimmel gelobt, das heilige Grab der Freiheit wieder zu erobern, tadelt den guten Willen Ludwigs XVIII., daß er den Franzosen die Charte gegeben. Er sagt: „ ... Der Übergang von der Despotie, wo das Volk nichts, zu der repräsentativen Monarchie, wo es so viel ist ... war zu stark und zu schnell. Frankreich war noch nicht reif für eine Repräsentativverfassung; es ist ein Unsinn, dieselbe auf einer tabula rasa erbauen zu wollen, nur auf das Fundament freier Munizipalverfassungen kann dieselbe sich stützen.“ Rührender ist doch wahrlich nichts, als die zärtliche Besorgnis, daß nicht das liebe Volk durch einen zu schnellen Übertritt aus der dumpfen Stube der Despotie in die freie Luft der repräsentativen Verfassung sich einen Schnupfen hole! Haben Frankreichs letzte dreißig Jahre die Franzosen noch immer zur Freiheit nicht genug abgehärtet? War das Volk nichts seit dem Tode seines letzten Königs? Es war viel. Die Feudaldespotie hatte gedroht, die usurpierte der Revolution geschmeichelt; jene hatte Gewalt, diese List angewendet. Geschah wenig für, so geschah doch alles durch das Volk. Die sinnliche Freiheit wurde verletzt, aber die sittliche wurde hoch geachtet. Die Despoten der Revolution wechselten in ihrem Drucke, und es ist ein erträglicher Zustand, wenn ein Lastträger seine Bürde bald auf die rechte, bald auf die linke Schulter, bald auf diesen, bald auf jenen Arm nehmen und dem ermüdeten Gliede Erholung geben kann. Die Feudaldespoten aber saßen dem Volke immer auf dem Nacken. Die Despoten der Revolution wechselten in ihren Personen, und wer heute unterdrückt war, ward morgen Unterdrücker; bei der Feudaldespotie aber bleibt, wer einmal Herr oder Sklave ist, ewig Herr und ewig Sklave. War das französische Volk nichts mit seiner Gleichheit, dieser Kapsel der Freiheit, die, sei sie auch verschlossen, doch die Freiheit bewahrt, die früher oder später einmal herausgeholt wird? Nicht reif genug zur Freiheit! Wer soll diese Reife bestimmen, die Freiheitslese, wer verordnet sie? Haben je Vormünder der Völker sich gutwillig ihrer Vormundschaft begeben, und wer richtet die Übelwollenden? Ein Mündel ist immer reif zur Selbständigkeit, wenn er, sein Erbteil zurückzufordern, Verstand und Kraft genug hat. Wo Völker und Früchte abfallen, da sind sie überreif geworden und man hat zu lange gezögert. Zu behaupten, eine Repräsentativverfassung sei unhaltbar, solange sie nicht freie Munizipalverfassungen zur Stütze habe, ist ebenso unsinnig, als wenn man ein neugebornes Kind für lebensunfähig erklärt, weil es noch nicht auf den Beinen stehen kann.

Die Beine werden stark werden, zugleich mit dem Kopfe und den anderen Gliedern. Hätte Frankreich, wie England, Munizipalfreiheiten gehabt, so hätte nie die Revolution Platz gefunden: die hatte es eben seiner tabula rasa zu verdanken. Die Hochstraße der Freiheit, die durch das ganze Land geht, muß gegründet sein, ehe man an die Feldwege denken darf, die zu den Gemeinden führen.

224. Ein Geck hatte zwei Wintermonate in Paris zugebracht. Als er nun in die Heimat zurückgekehrt, zierte er sich immerfort französisch zu reden. Da fragte ihn ein Spötter: Lieber Freund, wissen Sie auch, wie Gewitter auf französisch heißt? ... Man könnte diese Frage den Diplomatikern machen. Sie haben das Land der Menschheit im Winter bereist und glauben es zu kennen. Wissen Ew. Exzellenz, was ein Gewitter ist?

225. Es gibt zwei Arten, Früchte vor Fäulnis zu bewahren und sie eßbar zu erhalten: durch Essig und durch Zucker. Die Konservatoren der alten Zeit haben den Essig gewählt. Warum den Essig, da er vielen widersteht, warum nicht lieber den Zucker, womit man Weiber, Kinder, Fliegen und die Menge lockt? ... Aber desto besser; sauer oder süß, die alte Zeit ist eine ungesunde Lebensnahrung.

226. „Der Mensch denkt's, Gott lenkt's“ ... Das ist nun wieder nicht wahr. Wenn Gott lenken will, macht er, daß die Menschen nicht denken, er läßt sie den Kopf verlieren.

227. Es wird noch dahin kommen, daß man in politischen Schriften sich nur der Vokale wird bedienen dürfen. A, e, i, o, u – nichts Allgemeineres als das. Diphtonge haben schon viel Unbescheidenes, und man wird sie bloß in den seltenen Fällen verstatten, wo es nottut, das Volk zu begeistern – so etwa in Befreiungskriegen.

228. Es ist eine schöne Erfindung unserer Zeit, den Gelddurst der Gegenwart mit den Weinlesen der Zukunft zu stillen und auf die bequemste Art von der Welt lustig in den Tag hineinzuzechen. Unsere Enkel werden auch so klug sein als wir und auf ihre Nachkommenschaft Wechsel ausstellen. Diese treibt es dann so fort. Endlich am jüngsten Tage wird es auf der ganzen Erde nur ein einziges Lumpenvolk geben, mit dem sich der Teufel selbst nicht wird befassen wollen. Dann kommen die Armen in den Himmel, und die Christenheit wird es mit Beschämung erfahren, daß sie der Judenschaft ihre ewige Seligkeit zu verdanken hat.

229. Es ist erstaunlich, wie sehr die Journalisten an Feinheit, Gewandtheit, Zweideutigkeit, Unerforschlichkeit und an allen übrigen diplomatischen Tugenden täglich zunehmen und nach einigen Jahren, wenn die Zensur solange fortdauert, wird man die Gesandtschaftsstellen nur mit Zeitungsschreibern besetzen. Statt zu sagen Rußland, sagen sie: „eine große nordische Macht“; statt zu sagen Österreich, sagen sie: „eine große süddeutsche Macht“. Die Hälfte der Konjugationen der Zeitwörter gerät ganz in Vergessenheit, denn man gebraucht keine Indikative mehr, sondern nur noch Konjunktive. Man schreibt nicht: „Tunis ist ein Raubstaat“, sondern: „Wenn es einen Staat gäbe, der mitten im Frieden Handelsschiffe anderer Nationen wegnähme, so könnte ein solcher Staat allerdings ein Raubstaat genannt werden.“ Welch ein Heimlichtun! Das ist wie auf Maskenbällen, wo man schon für maskiert gilt, wenn man die Maske an den Hut steckt.

230. Wenn man jenen hausbackenen Philistern zuhört, jenen Menschen mit kurzem Gesichte und langen Ohren, wie sie sich herausnehmen, Fürsten zu hofmeistern, sie, die vom Morgen bis Abend sich von ihren Weibern, ihren Kindern, ihren Dienern, ihrer Pfeife, ihren Dampfnudeln, ihren Vettern und Basen beherrschen lassen und nicht so viel Kraft des Willens haben, einen halben Schoppen weniger zu trinken als den Abend vorher – dann muß man die Freiheit sehr treu und standhaft lieben, um für solche Thersiten und in ihrer Reihe ihre Sachen zu verfechten. Es gäbe ein sicheres Mittel, wie Fürsten mit Unrecht murrende Untertanen könnten zum Schweigen bringen; aber das Mittel ist zu romantisch für unsere abendländische Zeit. Sie brauchten nur einen Tag herabzusteigen von ihren Thronen und einen jener Philister hinaufsteigen zu lassen, damit er den andern Morgen seiner Sippschaft erzähle, wieviel angenehmer es sei, sogar schrankenlos zu gehorchen, als selbst unbeschränkt zu herrschen.