Aphorismen und Miszellen. 155 bis 160.

Autor: Börne, Carl Ludwig (1786-1837)
Themenbereiche
wollten, sollten uns die deutschen Staatsmänner auf die Folter spannen, uns zum Reden zu zwingen. Jede freie Zeitung würde Preußen ein Regiment ersparen. Auch wissen sie das sehr wohl, nur meinen sie, es hätte Zeit bis zum Kriege. Sie füllen den Geist in kleine Riechfläschchen und verstopfen diese gut, und wandelt sie eine Ohnmacht an, greifen sie nach dem Spiritus. Es ist gar nicht zu sagen, welchen Hochmut die deutschen Staatsmänner gegen die Schriftsteller zeigen, sobald diese von etwas Gegenwärtigem, Lebendigem, Barem reden. Die Wahrheit dürfen wir besitzen, aber das Münzrecht derselben behalten sie sich vor. Ich will nicht behaupten, daß sie uns so sehr verachten, uns nicht für hängenswert zu halten; aber sie verachten uns ziemlich, beschauen uns von hinten und vorn, lachen über unser düsteres, ledernes, fremdartiges Ansehen, wünschen spöttisch ihr Glück auf! und zählen heimlich die Taler, die wir aus dem dunkeln Schacht geholt. Das freie Wort belästigt sie wie eine Mücke. Die Unglückseligen! Darum zählen sie auch die Bajonette, nicht die Herzen, und zittern, wenn der Feind so viel Bajonette mehr zählt als die vaterländische Macht. Es wird ihnen so bange, wenn ein anderer Staat fett und dick wird; sie wissen nicht, daß Fett keine Nerven hat, daß den Dicken der Schlag droht. Sie wissen nicht, daß es in unsern Tagen nur das Herz ist, welches siegt, welches erobert.

147. Keine größere Tücke kann das Schicksal gegen große Menschen üben, als wenn es sie am Schlusse einer alten Zeit erscheinen läßt. Sie sind dann nur die Leichensteine begrabener Geschlechter, und ihr Ruhm wird mit Füßen getreten. Welche aber das Geschick begünstigt, die läßt es am Anfange einer neuen Zeit auftreten. Sie wachsen dann in das zarte Jahrhundert hinein, mit ihm gegen den Himmel, und werden unsterblich. Goethe und Napoleon gehören zu den einen; Voltaire, Rousseau, Washington, Lafayette zu den andern.

148. Es ist mit der Herrschbegierde wie mit der Eßlust. Bei schwachen Gemütern ist jene oft am stärksten, wie diese oft am größten ist bei Menschen von schwacher Verdauung.

149. Es ist nichts angenehmer, als aus einem Übel, das uns begegnet, Vorteil ziehen – und man kann das immer. Dieses ist in einem andern als dem gewöhnlichen, aber in einem schönern Sinne eine Schadenfreude. Man kann den Teufel nicht feiner prellen.

150. Sooft ich in eine Universitätsbibliothek kam, fühlte ich Lust, den im Saale Herumgehenden zuzuflüstern: weckt die guten Bücher nicht, tretet leise auf, unterhaltet euch lieber mit den wachenden – mit den Professoren.

151. Vor allen Kindern, die uns begegnen, sollten wir uns tief und ehrfurchtsvoll verneigen; sie sind unsere Herren, für sie arbeiten wir. Ein Kind in der Hütte ist mehr als ein Greis auf dem Throne. Schon darum muß man suchen, Vater zu werden, um Kinder ohne Neid betrachten zu können.

152. Ein Zuckerbäcker in Spanien hat neulich erfunden, warmes Eis zu bereiten. Der Erfinder hat wahrscheinlich an Höfen gedient.

153. Die Haushaltungsbücher der Erfahrung sind darum so schwer zu benutzen, weil die Geschichte nur die einzelnen Posten bemerkt, aber nie Summe und Transport zieht.

154. Liegt ein Vornehmer krank auf seinem Lager, dann eilt die bezahlte oder die bettelnde Sorgfalt, Stroh auszubreiten über das Pflaster der nah gelegenen Gassen, damit nicht der schwere Fuß des Lastträgers, noch der Trott der Pferde, noch die rasselnden Räder den Leidenden aus seinem Fieberschlummer stören. Dieser ist froh, daß die Welt so stille sei; aber die geschäftige Menge treibt sich umher wie immer, jeder wandelt seinen Weg der Lust oder Not, die Wagen rollen nicht minder schnell, keiner verliert, und nur der Dieb gewinnt, daß er, wenn die Nacht herannaht, zögernden Schleichens überhoben, seiner Beute rascher entgegenstürzen darf ... So auch gehen Gedanken und Reden wie früher ihren gewohnten Weg, nur leisern Trittes, über die weiche Decke hin, mit der man, empfindliche Köpfe zu schonen, die Straßen der öffentlichen Meinung belegt hat.

155. Würde einst das Menschengeschlecht so entartet, daß es den Teufel als göttliches Wesen verehrte, dann fände sich das Testament, welches die Offenbarungen dieser höllischen Religion enthielte, schon vorlängst fertig und gedruckt – in Llorentes Geschichte der spanischen Inquisition. Menschen morden ist etwas; sie foltern ist viel; aber ein ganzes Volk, ein hochherziges, geistreiches, tapferes und lebenskräftiges Volk, wie das spanische immer war, dreihundert Jahre auf der Folter zu halten – nicht nur auf jener Folter, die Glied von Glied abreißt, sondern auf jener schrecklichern, welche den ganzen Bau der menschlichen Natur auseinanderzieht, welche Sohn von Vater, Bruder von Bruder, Gattin von Gatten trennt, daß sie sich verraten; welche die Bande der allerstärksten Liebe, die der Selbstliebe sprengt, so daß der Geängstigte sein eigener Verräter wird – wie man das nenne? es gibt kein Wort, und will man das Entsetzliche der Inquisition beschreiben, hat man nur immer das Wort Inquisition dafür. Sollte es auch gelingen (und es wird gelingen), die Fackel der Zwietracht unter die Spanier zu werfen und sie zum Bürgerkriege aufzureizen, müßte dann Spanien wie Frankreich dreißig Jahre mit äußern und innern Feinden kämpfen, bis es zur Ruhe gelangt: auch dann noch wäre die Befreiung von der Inquisition wohlfeil erkauft. Was sind Septembertage gegen Autodafés, was Füsilladen gegen Scheiterhaufen, was ist die wandernde Guillotine gegen das schleichende Gift der geheimen Gefängnisse, der geheimen Zeugenaussagen, welcher sich das heilige Offizium bediente? Treten einst Robespierre und Marat vor den Richterstuhl des Herrn, dann werden sie freigesprochen, wenn ihnen ein Generalinquisitor nahe steht. Wer dieses Werk Llorentes kennt und ein Herz im Busen trägt, das der Liebe und des Erbarmens fähig ist, wird das Buch zu verbreiten suchen, daß es bis in die niedere Hütte des Landmanns dringe. Wenn unter jeder Million Menschen es nur tausend lesen, wenn unter diesen Tausenden es nur hundert ergreift, dann ist die Freiheit der Völker gesichert, dann ist keine Tyrannei alt genug, sich zu erhalten, und keine neue listig genug, sich einzuschleichen.

156. Revolution heißt eine Umgestaltung der öffentlichen Meinung, solange diese Umgestaltung noch im Werden, noch nicht vollendet ist. In diesem Sinne ist Deutschland auch im Revolutionszustande, und die von der Bundesakte zugesagten ständischen Verfassungen sind nicht minder Folgen der Revolution, als die Charte es ist, die Ludwig XVIII. bewilligte – sie wurden nicht gegeben, sondern nachgegeben.

157. „Den Bösen sind sie los, die Bösen sind geblieben.“ Wer etwa eine Geschichte unserer Zeit im Werke hat, dem wird geraten, diese Worte des Mephistoteles in Goethes Faust als Motto zu gebrauchen.

158. So gewaltige Dinge auch geschehen sind seit dreißig Jahren, so war der Schauplatz dieser Geschichten doch nur erst ein Fechtboden, nur Rapierstreiche sind bis jetzt gefallen; der Ernstkampf soll noch folgen.

159. Ein mißverstandenes Christentum hat uns alle verwirrt, hat uns den Genuß gegen die Hoffnung abgelistet, es hat uns gelehrt: die Menschheit sei bloß eine Puppe, nur um des einstigen Schmetterlings willen geschaffen; der Mensch werde nie geboren, um zu leben, sondern um zu sterben, und er lebe nicht, um sich zu freuen, sondern um zu leiden. Einen glücklichen Menschen beweinen wir, und wer seinen irdischen Vorteil sucht, den verdammen wir. Ferner wurde uns gelehrt die Freiheit des menschlichen Willens, und wir machten uns und andere verantwortlich für alles, was in der Welt geschah, und zu den Leiden, die uns achtzehn Jahrhunderte aufgebürdet, kamen noch die Vorwürfe unseres Gewissens und das peinigende Gefühl, diese Leiden verschuldet zu haben. Die feudalistischen Regierungsverfassungen, bestehend in einer Art, wovon die Alten nicht einmal eine Vorstellung hatten, vermehrten die Verwirrung. Gewohnt zu sehen, daß alles durch einzelne geschieht, glaubten wir auch, alles geschehe für einzelne, und in diesem Glauben wurden die Völker- und Staatengeschichten geschrieben. Die sogenannte „Geschichte der drei letzten Jahrhunderte“, wie sie uns in unserer Jugend von gläubigen Professoren gelehrt ward, ist die Chronik eines Tollhauses, von einem seiner Bewohner verfaßt. Die geistreichsten Gelehrten waren so gutmütig zu bekennen, daß viel besser als sie selbst jeder Kammerdiener, der so glücklich gewesen, Ludwig XIV. die Nachtmütze zu reichen, imstande gewesen wäre, die Geschichte Europas zu schreiben. Und jetzt lese man die Werke solcher Kammerdiener-Seelen! An dem Fuße jedes Weidenbaumes, der am Ufer stand, suchten sie die Quelle des Stromes, der an dem Ufer vorbeifloß, und fragte man sie, woher die Wellen kämen, dann zeigten sie mit wichtiger Miene in die Tiefe und sagten: das täten die Kieselsteinchen am Grunde. So haben sie die Geheimnisse des Menschenlebens zwischen den Falten eines Weiberrocks hervorgesucht, und gab es ja einmal Besserkundige, die das weise Beginnen der Vorsehung erkannten, spotteten sie und zeigten, wie bald eine fürstliche Liebschaft, bald eine Hartleibigkeit, bald ein schiefes Fenster, bald ein paar Handschuhe alle die großen Veränderungen in Europa hervorgebracht hätten. Wäre das Hofleben der Tarquinier so geheim gewesen als das von Ludwig XV., und wäre Livius so albern gewesen als die neuern Geschichtsschreiber, dann hätte auch er mit dem Stolze eines historischen Kolumbus aufgefunden, daß nicht die hohe Bestimmung Roms, daß nicht Brutus und die ihm Gleichgesinnten dem Volke die Freiheit gegeben, sondern daß ohne die Entehrung der Lucretia Rom nie eine Republik geworden wäre. In unsern jetzigen Repräsentativstaaten sind zwar die Kabinette weniger verschlossen als sonst; aber die Köpfe der Geschichtslehrer sind es noch so sehr als jemals. Man durchwandele die Milchstraße der deutschen Zeitungen, man lese darin die Mitteilungen der Pariser Privatkorrespondenzen, welchen wie den Weisen aus dem Morgenlande Sterne vorausgehen, und man lache nicht! Eine große Nation wird als Marionette geschildert, welche Parteien und Parteimänner nach Laune lenken. Alles, was geschieht oder unterbleibt, wird diesen zugeschrieben. Von dem Genius der Menschheit, der auch über Frankreich wacht, von der innern Lebenskraft des Landes, die wie das tierische Leben der Triebe, so der Leidenschaften sich zu seiner Erhaltung bedient – davon wissen jene Sternseher nichts. Ein solcher Staatsmann in den Allgemeinen politischen Annalen sagt mit großer Ernsthaftigkeit da, wo er von Benjamin Constant und seinen Freunden spricht: „Es bleibt ein großer Mißgriff, und wofür Frankreich schwer gebüßt hat, daß das Ministerium diesen Männern eine Bedeutsamkeit zutraute und bestimmte Zwecke zuschrieb, wovon sie weit entfernt waren. ... Hätte man Benjamin Constant im Staatsrate gelassen, dem Marquis Chauvelin seinen Platz als Oberzeremonienmeister wieder gegeben, so sähe man sie jetzt als eifrige Anhänger der Bourbons.“ Kann man so etwas schreiben und auf Beistimmung hoffen, kann man so etwas lesen und gelassen bleiben? Ich will nicht mit dem Verfasser rechten, daß er Männer verlästert, die sich zu jeder Zeit als unerschütterliche Freunde der Freiheit gezeigt haben; aber das kann ihm nicht zugegeben werden, daß das Schicksal des französischen Volks von diesen oder andern Männern abhänge und daß der Zeremonienmeisterstab in Chauvelins Händen ein Zauberstab geworden wäre, der Frankreich umgeschaffen hätte. Wurden nicht gerechte Schlachten auch durch Söldlinge gewonnen? Jene Parteimänner mögen immer für ihren eigenen Vorteil streiten, es bleibt doch die gute Sache, deren Sieg sie erkämpfen helfen. Die Ananas wächst unter dem Miste hervor, ein langer schmutziger Weg führt aus dem Goldschacht bis zum Gewölbe der Kleinodienhändler; aber die Frucht schmeckt doch süß, das Geschmeide glänzt nicht minder – und Frankreich wird frei und glücklich werden, trotz der Selbstsucht seiner Führer, wie trotz den Gaukeleien seiner Irrlichter.

160. Derselbe Politiker sagt am bezeichneten Orte: „Wenn wir mit unbefangenem Blicke den Zustand des heutigen Europas überschauen, so finden wir eine große Ähnlichkeit zwischen den heutigen europäischen Staaten und dem römischen Reiche vor dessen Untergange durch neue Lehrer und feindlichen Andrang. Wie damals das Christentum im Gegensatz zum Heidentum mehr negativ als positiv, mehr zerstörend als schaffend auftrat, so jetzt die sogenannten liberalen Ideen. Denn leider erkennen unsere heutigen Reformatoren keine andere Religion als die ihrer Chimärenpolitik ...!“ Unser staatsweiser Mann hat zu scharf geladen, die Büchse ist ihm in der Hand geplatzt und hat ihn selbst verwundet! Ja freilich ist es so; gleich wie jetzt die Lehren des Liberalismus verspottet und deren Anhänger verfolgt werden, so wurde damals die Christuslehre verspottet und verfolgt – aber auf welcher Seite ist der Sieg geblieben, bei den Unterdrückern oder Unterdrückten? Rom ist nicht mehr, und das Christentum besteht noch in seiner Kraft. Das römische Reich ist nicht durch feindlichen Andrang und durch die neue Lehre untergegangen. Solange Rom männlich und stark war, besiegte es seine Feinde, solange die römische Menschheit frei und glücklich war, blieb sie den Göttern des Lebens treu. Als aber Rom alterte und hinfällig ward, unterlag es dem Schwerte der Barbaren, und als die Römer in Sklaverei und Elend verfielen, da ward ihnen von der schützenden Vorsehung der Gott des Todes gesendet, als ein Tröster der Leidenden, als ein Krankenwärter der siechen Menschheit; da ward der Blick von einer Erde voll Nacht, Haß und Trauer zu einem Himmel voll Liebe, Licht und Seligkeit hinaufgeleitet. Die „sogenannten liberalen Ideen“ unserer Zeit wirken freilich, wie das Christentum bei seiner Entstehung, negativ und zerstörend; aber wie kann das anders sein? Wandelt nicht jede Gegenwart über den Gräbern der Vergangenheit, und könnten die Lebenden Platz finden, wenn man nicht die Toten unter die Erde brächte? Kann man die Freiheit in die Luft bauen, oder soll man neue Gebäude auf die Dächer der alten setzen? Der Boden ist eingenommen von den Institutionen der Mittelwelt und dem Schutte der Feudalität. Diese müssen weggeräumt werden, um der neuen bürgerlichen Ordnung Platz zu machen; das heißt aber nicht zerstören, das heißt nur verweste Körper einscharren.