Aphorismen und Miszellen. 081 bis 090.

Autor: Börne, Carl Ludwig (1786-1837)
Themenbereiche
81. Deutsche Demut. – Als der König von Preußen in Paris war, hatte die Gazette de France von ihm er zählt, er habe die Ehre gehabt, mit dem Könige von Frankreich zu Mittag zu essen. Eine deutsche Zeitung keifte etwas über solche leichtfertige unumständliche Rede. „So spricht eine Zeitung der zivilisiertesten Nation in Europa von ihren Gästen!“ rief sie aus. Daß das kleine Herz zum Zorne sich bewegte, war schön, nur verfehlte es das rechte Ziel. Mit den Deutschen laßt uns schmollen, daß sie nicht zu sein wagen wie jene. Wenn auch ja einmal das Maß der Ehrfurcht, das ein freies unabhängiges Volk einem fremden Fürsten schuldig ist, nicht gehörig beachtet worden, was ist tadelnswerter, die Verkürzung oder Überschreitung jenes Maßes? Liegt nicht etwas Großes darin, daß Frankreich einen König, dessen siegreiche Fahnen noch innerhalb des Landes wehen, zu liebkosen verschmäht? Hätte, als Napoleon zu den Zeiten seines Glanzes die Staaten seiner Bundesfreunde durchreiste, der Zeitungsschreiber irgend einer Residenz zu sagen gewagt: der Kaiser von Frankreich habe die Ehre gehabt, mit dem Könige zu speisen, beim Himmel! alle deutschen Höfe wären blaß geworden, und man hätte, um Gott zu versöhnen, einen allgemeinen Bet- und Bußtag im Lande ausgeschrieben. Also die Preußen, die wären eine „zivilisierte Nation“, weil sie 1806 am Abende des Einzugs Napoleons in Berlin die Stadt aufs Prächtigste beleuchtet hatten? (Die Nachwelt wird dieses als ein Ammenmärchen belächeln!) Also die Deutschen wären „zivilisierter“ als die Franzosen, weil sie, wenn es dem Könige von Frankreich gelüstete, von Paris nach Petersburg zu reisen, sie mit der Superlativität der Untertänigkeit von ihm sprechen und weil ihre Tagesblätter ein genaues Register darüber führen würden, wo Allerhöchstdieselben jede Nacht zu schlafen, um wieviel Uhr ins Bett zu steigen geruht haben und wieviel Pferde auf jeder Station von der Seine bis an die Newa zu Allerhöchstderen Dienste gebraucht worden wären? Ein Volk, das fremden Herrschern nicht geringere Ehrfurcht als seinen eigenen bezeigt, verrät hierdurch, daß es in seinem Fürsten nicht den Vater des Vaterlandes liebte, sondern nur die Fürstlichkeit in ihm abergläubisch fürchte. Es gibt deutsche Blätter, die nie von dem vielen, was in englischen Hochherziges und Herrliches enthalten ist, auch nur ein einziges Wort mitteilen, aber von den Schmerzen und Erleichterungen der jetzt verstorbenen Königin von England uns monatelang täglich die genauesten Berichte lieferten. Es gibt deutsche Blätter, die vierzehn hintereinander folgende Tage von einer toten Prinzessin und von den Lichtern sprechen, die bei ihrer Bahre gebrannt und wieviel Ellen schwarzes Tuch zum Trauerbehänge verbraucht worden; aber von den leuchtenden großen Gedanken, die durch die französische Deputiertenkammer blitzen und gewittergleich ganz Frankreich erfrischen, mäuschenstille schweigen. Es gibt deutsche Blätter, die von jeder Feuersbrunst in Konstantinopel so genaue Nachrichten haben, als hätten deren Herausgeber dabei die Spritzen geleitet, aber den Rauch in ihrem eignen Vaterlande niemals wahrnehmen. Das deutsche Volk schmieget und windet sich, als wäre es der Hofmarschall Kalb bei allen Fürsten Europens. Es ist ein gemeines Wesen unter uns, aber kein Gemeinwesen.

82. Der heilige Bund. – Der Fürst von Leyen hat zu Aachen eine Denkschrift eingereicht, in welcher er eine Entschädigung für seine verlornen landesherrlichen Einkünfte anspricht. Er ruft darin die Monarchen als Stifter und Beförderer des heiligen Bundes auf, welcher wolle, daß der Glaube an Recht und Gerechtigkeit die Herzen der ganzen Christenheit belebe, daß der rohen Gewalt Mißbrauch gegen Schwächere aufhöre und die Gerechtigkeit allein herrsche. Man kann vor der Tiefe des heiligen Bundes voller Ehrfurcht und Bewunderung sinnend stehen; aber ein menschenfreundliches besorgtes Herz läßt sich dennoch von der Furcht überschleichen, wie leicht ein einziger Fehltritt, eine schmale fußbreite Abweichung von der wahren Deutung der Übereinkunft, Staaten und Völker in einen jammervollen Abgrund stürzen könne. Bliebe die Auslegung des Vertrages immer den Fürsten, die ihn geschlossen, allein überlassen, dann wäre nichts zu fürchten als deren Sterblichkeit. Aber den ungetreuen Dolmetschern ihres Willens hat man endlich mißtrauen gelernt. Die Zukunft wird es lehren, welche Dinge nicht alle, im Namen des heiligen Bündnisses, gefordert, bewilligt oder versagt werden. Keiner, auch noch so voll des billigen Argwohns gegen die Versprechungen irdischer Machthaber, verkennt das schöne Feuer, das in dem Gemüte Alexanders lodert und das die Menschheit läutern würde, wäre dieser Fürst nicht einige Jahrhunderte zu früh geboren. Warum ließ er geschehen, daß die stille reine Quelle seines frommen Herzens zu einem Strome fortgerissen worden, der nun alle europäische Höfe durchfließt, wo auch das klarste Wasser getrübt werden muß, weil es dort nicht zur Stillung des Durstes gebraucht, sondern nur als eine schnellere Straße, die zu selbstsüchtigem Ziele führt, befahren wird? Warum wurden so viele Regierungen zum Beitritte des heiligen Bundes zugelassen? Alexanders einsames Beispiel hätte der Welt mehr gefruchtet als der lärmende Troß seiner Glaubensheuchler.

Bedarf die Tugend eines Bundes? Sie verträgt ihn nicht einmal. Worin aber bestehen die Grundsätze, von welchen der Fürst von Leyen Ersatz für seine verlorne jährliche Rente erwartet? Welche Gerechtigkeit ist es, wozu die Teilnehmer des heiligen Bündnisses sich verpflichteten? Die himmlische kann es nicht sein, denn die Verwaltung dieser wird kein schwacher Mensch zu übernehmen sich erkühnen. Die göttliche Gerechtigkeit ist es nicht, denn diese, die ausgleichende, zerstört, um zu schaffen, nimmt, um zu geben, raubt, um zu bezahlen. Die menschliche, welche nichts vermag, als den Besitz zu heiligen und das Bestehende zu schonen, ist's, die man anzugeloben den Willen gehabt haben konnte. Aber diese Gerechtigkeit, wenn sie weiter als über die Verhältnisse der einzelnen, wenn sie über die der Völker und Staaten sich erstreckt, ist unheilbringender, als die schnödeste Willkür. Sie hält die Staaten in ihrer Entwickelung auf, sie zertritt die jungen Keime der bürgerlichen Freiheit und schmiedet das Schicksal unsterblicher Völker an vergängliche Fürstengeschlechter fest. – Der heilige Bund ist ein goldener Becher, der gemeinschaftliches Eigentum aller europäischen Regierungen ist und den jeder Berechtigte, sobald ihn durstet, mit dem Getränke, nach welchem ihm gelüstet, anfüllen wird. Es bedarf der vielen Worte nicht, das Urteil ist ihm längst gesprochen: Die zwei einzigen freien Staaten der Welt, England und Nordamerika, sind ihm nicht beigetreten.

83. Ein ehrlicher Mann, der in sogenannten Welthändeln verwickelt ist, verfällt oft in Gewissenszweifel, ob er denn wirklich ehrlich verfahre oder nicht. Denn da man sein Gesicht für eine Maske hält, wird er an sich selbst irre und weiß endlich nicht mehr, ob er die Leute oder ob die Leute sich nur in ihm betrogen.

84. Die heutigen Menschen, in der kleinen wie in der großen Welt, sind über ihren eigenen und wechselseitigen Vorteil so aufgeklärt, daß sie sich einander nicht mehr täuschen können. Wenn es daher nicht aus alter Gewohnheit geschieht, ist es ganz unerklärlich, warum man noch lügt oder sich verstellt. Die einzige Art zu betrügen, die zuweilen noch Erfolg hat, ist – offenherzig zu sein.

85. Es gibt immer noch wohltätige Menschen, und wer einmal so glücklich ist, unglücklich zu werden, dem wird geholfen. Früher freilich nicht!

86. Vernunft verhält sich zum Verstande wie ein Kochbuch zu einer Pastete.

87. „Alles für, nichts durch das Volk“ – sagen die Schlauen. Das heißt ins Aufrichtige übersetzt: nicht am Gelde und Gute ist uns gelegen, sondern nur daran, daß wir herrschen. Wer aber ist der gefährlichste Feind der bürgerlichen Freiheit? Nicht der niedrige Mensch, der nur nach Reichtum und sinnlichen Genüssen strebt; denn dieser läßt sich abfinden, und hat die Macht sich zum Volke gewendet, bettelt er auf dem Markte, wie er früher in den Palästen gebettelt. Der gefährlichste Feind der Freiheit ist der Herrschsüchtige; denn selbst das Gute tut er nur mit Willkür. Nicht Mirabeau, ein Lüstling und ein bestechlicher Mensch, sondern Robespierre, der den Reichtum verachtete, ward der Tyrann seines Vaterlandes.

88. Schon manches dunkle Rätsel der Geschichte haben Zeit und Forschung gelöst; aber die Geduld, die Langmut der Völker wird ewig unbegreiflich bleiben. Unter Ludwig XV. ward ein Montmorency des Mordes überführt und zur Strafe durch ein Lettre de Cachet auf einige Zeit in die Bastille gesetzt. Sein Bedienter aber, als Mitschuldiger verdächtig, ward aufs Rad geflochten. Und zwischen dieser schrecklichen Willkür und der Revolution verflossen noch mehr als fünfzig Jahre!

89. Vor der Revolution gab es in Frankreich nach der Berechnung eines der zuverlässigsten Schriftsteller, und um seine eigenen Ausdrücke zu gebrauchen: „sieben Millionen Menschen, die Almosen verlangten und zwölf Millionen Menschen, die nicht imstande waren, Almosen zu geben.“ Jetzt ist der Wohlstand über das ganze Land verbreitet, durch alle Stände des Volks verteilt; es gibt keine Bettler mehr ... Man nenne uns den Staat, wo eine so glückliche Verwandlung oktroyiert worden ist.

90. Wenn man das Treiben der französischen Ultras sieht, glaubt man an das Wunder: daß der heilige Dionysius, nachdem er enthauptet worden, seinen Kopf unter den Arm genommen und damit spazieren gegangen ist.