Aphorismen und Miszellen. 061 bis 070.

Autor: Börne, Carl Ludwig (1786-1837)
Themenbereiche
61. Die Menschen würden nach jeder neuen Erfahrung, die ihnen die Geschichte darbietet, weiser werden, wenn sie sie unentgeltlich benutzen könnten. Weil sie aber dafür zahlen müssen, benutzen sie sie nicht; denn das Schicksal warnt wie die Buchhändler: „Beschmutzte und aufgeschnittene Exemplare werden nicht zurückgenommen.“
62. Wenn, wie es in Deutschland oft geschieht, Gesetze in der Sprache von Befehlen abgefaßt werden, gewöhnt man die Bürger daran, Gesetze als bloße Befehle anzusehen, denen man folgt, nicht weil man sie ehrt, sondern weil man sie fürchtet.

63. Nie wurde die Wissenschaft in Deutschland von den Großen so sehr verehrt, als jetzt. Ich rede ernst, wenn ich das sage; aber es ist ein Jammer mit den Deutschen, daß sie, weil keinen Spaß auch keinen Ernst verstehen. Es war eine Zeit, da hätte man jeden, selbst eines Majestätsverbrechens überwiesenen akademischen Lehrer (solange nur kriminalistische Förmlichkeiten nicht hinderten) ruhig fortlehren lassen bis zur Stunde der Hinrichtung. So sehr war das Leben getrennt von der Wissenschaft, daß man die öffentliche Rede auch eines Verbrechers nicht fürchtete. Fällt aber jetzt nur der leiseste Verdacht auf die polizeigemäße Denkungsart eines Professors, so werden gleich seine Vorlesungen eingestellt. Ist das nicht Ehrfurcht vor der Wissenschaft? Das ist Furcht vielleicht, aber sie führt zur Ehrfurcht. Die bessern unter den Großen liebten vormals die Wissenschaft, aber sie liebten sie, wie man ein Spiel, ein Kind, ein Mädchen liebt, sie achteten sie nicht. Jetzt ist es besser. Man soll zittern vor ihr; denn der Geist sei König der Welt und das Recht sein Schwert.

64. Konstitutionen, wenn sie dauerhaft sein sollen, müssen fresko gemalt werden. Andere sagen das Gegenteil. Wir wollen sehen, wer recht behält.

65. Der echte Deutsche wird verlegen, wenn man ihn über einen witzigen Einfall ertappt; keuschen Geistes errötet er bei den buhlerischen Küssen der Phantasie.
66. Frau von Staël sagt: „Es gibt Zeiten, wo das Schicksal der Menschheit von einem einzigen Manne abhängt, und das sind unglückliche Zeiten; denn nichts ist dauerhaft, als was durch die Mitwirkung aller geschieht.“ Das mögen jene sich merken, die das Heil der Welt von einem politischen Messias erwarten. Völker sterben nicht, sie haben Zeit übrig, krank zu sein, und darum ist es besser, sie leiden etwas länger, als daß sie ihre Heilung einem Einzelnen verdanken. Das ist der gefährlichste Tyrann, der sich auch die Herzen unterwirft. Hätte August wie Tiber regiert, wäre die römische Freiheit nicht untergegangen. Fürsten, die größer waren als ihre Zeitgenossen, haben noch immer der Nachwelt Jammer vorbereitet; Friedrich der Große hat die Schlacht von Jena verloren. Auch haben in Demokratien die Völker immer eingesehen, daß sie eine Wohltat, die sie einem großen Mitbürger verdankten, sich nur durch Undank gegen den Wohltäter sichern konnten. Die Riegos aller Zeiten sind noch immer geopfert worden.

67. Die Staatsmänner schreiben ihre Erfahrungen mit Bleistift auf Pergamenttafeln, und ist das Blatt voll, löschen sie die Bemerkungen wieder aus, um für neue Platz zu gewinnen. Daher sind sie oft klüger als gestern, aber niemals klüger als vorgestern.

68. Philidor konnte sechs Schachpartien zugleich spielen, und er gewann sie alle. Doch das waren hölzerne Figuren, die stille stehen, bis man sie bewegt. Wer aber mit Menschen spielt, verliert gewiß, wenn er mehrere Spiele gleichzeitig verfolgt.

69. „Wann wird Ihre Frau entbunden?“ fragte Ludwig XIV. einen Hofmann. „Quand il plaira à votre majesté,“ antwortete dieser mit tiefer Verbeugung ... So schmeichelt man noch heute den Fürsten, sie könnten die Stunde bestimmen, in welcher die Zeit ins Kindbett kommen soll.

70. Es könnte eine zweite Sündflut über die Erde kommen, was würde sie nützen? Die Toren und die Bösen würden untergehen, aber Torheit und Bosheit würden bleiben. Die Vorsehung ist barmherzig, sie sorgt für eine rettende Noahsarche und läßt keine Gattung auch des niedrigen Gewürms verderben.