Aphorismen und Miszellen. 051 bis 060.

Autor: Börne, Carl Ludwig (1786-1837)
Themenbereiche
51. Jede Gegenwart ist eine Noterbin der Vergangenheit. Sie kann die Erbschaft weder ausschlagen noch sub beneficio inventarii antreten; sie muß sie, und zwar ganz, übernehmen, mit ihren Schulden und mit ihrer Schuld.

52. Es wäre nichts leichter, als die alte Zeit wieder herzustellen, man brauchte nur die öffentliche Meinung zu unterdrücken – und Kindern sagt man: Schwalben wären leicht gefangen, man brauche ihnen nur Salz auf den Schwanz zu streuen.

53. Wer glaubt, er könne die öffentliche Meinung benützen, ohne ihr wieder zu nützen, der betrügt nicht, der wird betrogen. Diese Wirtin läßt den reichen und lustigen Studenten auf Borg zehren und fortzechen – am Ende kommt die Rechnung.

54. Die Geheimnisse der Politik und die Brabanter Spitzen werden unter der Erde geklöppelt; denn die freie Luft zerrisse das überfeine Gespinst. Und das Erzeugnis so vieler Tage, so vieler Hände, so vielen Geldes? – Ein Schleier. Und der Gebrauch? – Die Schönheit verliert, was die Häßlichkeit gewinnt. Und der Nutzen? – Ein Windstoß hebt den Schleier auf, und eine einzige Minute zerstört die Täuschung einer langen Woche. Und die Lehre? – Verwebt euren Flachs zu Leinwand für das Volk; die hält Wind und Wetter aus und kleidet den Bürger wie den König.

55. Die Mauern Jerichos sind freilich von den Trompeten der Juden eingestürzt; aber es geschehen in unsern Tagen keine Wunder mehr, und ein vernünftiger Mensch sollte sich schämen zu glauben, das Geschrei der Zeitungen könne das gelobte Land der Freiheit eröffnen.

56. Welche Staatsverfassung ist die beste? „Diejenige, die am besten verwaltet wird.“ Diese Antwort hat die Schlauheit erfunden, um über die Nutznießung der Freiheit deren Besitz und über deren zeitigen Besitz das ewige Recht daran vergessen zu machen. Man könnte ebenso gut, nämlich ebenso falsch, auf die Frage: Welches Geschöpf ist das vollkommenste in der Reihe der lebendigen Wesen? erwidern: das gesündeste – woraus folgen würde, daß ein gesunder Pudel höher stände als ein kranker Mensch. Dieses ist aber in dem Grade unwahr, daß sogar ein kranker Weise mehr als ein gesunder Narr ist; denn der Weise kann gesund, der Narr kann aber nie weise werden.

57. Als Karl XII. in Bender war, legte ihm sein Günstling und Schatzmeister Gruithusen eine Rechnung von 50 000 Rthlr. vor, die in zwei Linien und folgenden Worten abgefaßt war, „ 10 000 Rthlr. auf Befehl Sr. Majestät den Schweden und Janitscharen gegeben, und den Rest von mir durchgebracht“. Das ist aufrichtig, sagte der König, und so liebe ich, daß mir meine Freunde ihre Rechnungen ablegen ... Unsere heutigen Finanzminister, die ihre erschreckliche Not haben, bis sie das Budget durch die Kammern bringen, werden diese Anekdote nicht ohne Seufzen lesen können, und ohne mit nassen Augen auszurufen: ach, die schöne alte Zeit!

58. Aufmerksamen Lesern der französischen politischen Blätter wird es nicht entgangen sein, daß die Aristokraten, sowohl auf der Rednerbühne als in ihren schriftstellerischen Mitteilungen, immer nur von Freiheiten sprechen, und nie das Wort Freiheit gebrauchen. Hier ist mehr weniger. Der Unterschied zwischen Freiheit und Freiheiten ist so groß als zwischen Gott und Göttern. Wie die wahre kirchliche Religion besteht in der Erkennung eines einigen Gottes, so besteht die wahre politische Religion in der Erkennung einer einigen Freiheit. Ein Volk kann Freiheit haben ohne Freiheiten und Freiheiten ohne Freiheit. Das französische Volk ist in dem erstern Falle, es besitzt rechtlich den Boden, aus welchem die Freiheiten entsprießen – die Charte; aber es genießt deren Früchte nicht, wenn sie ihm durch Exzeptionsgesetze und andere Staatsstreiche entzogen werden. Beispiele von Freiheiten ohne Freiheit finden sich in solchen europäischen Ländern, die autokratisch regiert werden und keine Verfassung haben. Wenn zu wählen ist, ist Freiheit ohne Freiheiten besser als umgekehrt. Im Besitze des Bodens ist es leichter, sich gegen den Raub der Früchte zu verteidigen, als bei der Nutznießung der Früchte den Boden wieder zu erobern. Die Aristokraten möchten durch Bewilligung von Freiheiten das französische Volk einschläfern, und es würde ihnen auch gelingen, wenn nur ihr Opium auf fünfzig Jahre ausreichte. Es wäre hier dasselbe Verhältnis wie mit Staatsgläubigern, die, solange ihnen die Zinsen richtig ausbezahlt werden, nicht an ihr Recht auf das Kapital denken. Auf der andern Seite suchen die liberalen Redner und Schriftsteller das Wort Legitimität zu umgehen, und gebrauchen dafür Legalität. Auch zwischen diesen beiden Worten ist der Unterschied sehr groß. Legitimität bezeichnet die Herrschermacht, welche über die Gesetze erhaben ist, Legalität das Herrscherrecht, welches den Gesetzen unterliegt.
59. Bei jeder Ministerialherrschaft (in der Kanzleisprache absolute Monarchie genannt) ist es Grundsatz und muß es Grundsatz sein, die Mißbräuche der Verwaltungsbeamten mit weniger Strenge zu untersuchen und zu bestrafen. Eine Regierung solcher Art steht dem Volke stets kriegerisch gegenüber, und wie ein General im Feldlager den Ausschweifungen der Soldaten, wenn sie nicht den Dienst betreffen, nachsieht, um ihnen Liebe für ihr Handwerk einzuflößen, so finden die Beamten aus gleichem Grunde Gelindigkeit für ihr Vergehen. Nur die Insubordination der Beamten wird bestraft. Man nehme jeden beliebigen Staat, wo keine Volksrepräsentation stattfindet, und gehe einen Zeitraum durch, solange als man will, und dann berechne man, wie viele Staatsdiener wegen Mißbrauch der Gewalt bestraft worden sind, und ob sie nicht immer, wenn sie ja Absetzung oder eine Strafe betroffen, sich diese wegen Subordinationsvergehen zugezogen hatten.

60. Lange Zeit haben sie sich für mächtige Zauberer gehalten, die Wind und Wetter machen können nach Belieben. Nun, da das finstere Ungewitter heraufgestiegen wider ihren Willen, haben sie zwar ihre Freudigkeit, aber nicht ihre Zuversicht verloren. Sie nehmen sich vor, den Sturm eine Rossinische Arie singen, die Blitze symmetrisch als chinesische Feuerwerke leuchten und den Donner im Takte rollen zu lassen. Auch der verschlagenste Dieb kann aus seiner Verborgenheit gezogen werden, er halte sich versteckt in dichten Wäldern, in unterirdischen Höhlen oder in dem finstern Winkel eines Hauses. Aber den Hochmut aus dem Schlupfwinkel eines menschlichen Herzens zu vertreiben, dazu ist selbst die himmlische Polizei nicht schlau genug.