Aphorismen aus der Feder von Christian Morgenstern

Autor: Morgenstern, Christian (1871-1914)
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Enthaltene Themen: Aphorismen, Christian Morgenstern
Ironisches Gebot: Wenn du gereizt bist, so wirf die Tür hinter dir zu, das erweckt allgemein Furcht.



Was ist das Erste, wenn Herr und Frau Müller in den Himmel kommen? Sie bitten um Ansichtspostkarten.


Es ist etwas Herrliches, wenn in das Händeklatschen einer Menge jenes Elementare kommt, das ich das Mark des Beifalls nennen möchte.


Mir sind diese Leute, die über alles so klug zu reden wissen, verdächtig. Des Geistes zeugende Kraft ist nicht in ihnen. Wem die Natur etwas Eigenes zu sagen mitgab, den kümmert es wenig, in jenem Sinne klug zu reden. Ihn erfüllt ganz der Geist seiner Aufgabe (nicht der Aufgabe anderer).


Wer sich selbst auch nur Einen geistig regen Vormittag streng beobachtet, dem muß das scheinbare Filigran der Psychologie vorkommen, wie ein Gespinst aus Baumstämmen.


Die Psychologie befaßt sich mit den einzelnen Wellen des Baches. Aber hat ein Bach je aus — Wellen bestanden?


Die Psychologie antwortet, so wie der Lehrer dem Kinde, das ihn fragt: Was ist das — ein Baum? Ein Baum, sagt er, ist eine Pflanze mit Wurzeln, einem Stamm, Ästen, Blättern usw. Und das Kind des 19. Jahrhunderts ist ganz glücklich, daß es nun ‚weiß‘, was ein Baum ist.


Man muß scharf zwischen dem aktiven und dem kontemplativen Menschen unterscheiden. Jedem sein Reich und seine Welt für sich. Und vor allem, wird der Kontemplative sagen, dem Aktiven sein Reich für sich. Denn wenn der Kontemplative der Duft der Lebensblume ist, so ist der Aktive, so ist ‚die Welt‘ der einzige Weg zu diesem Duft.


Wenn ich die Augen fünf Minuten lang geschlossen und inzwischen nicht ganz klar und zusammenhängend gedacht habe, so könnte ich mir leicht einreden, ein Jahr sei vergangen und noch viel mehr.


Es gibt nichts Sinnverwirrenderes, als eines Tages zu entdecken, daß man als der und der lebt.


Je tiefer einer wird, desto einsamer wird er; aber nicht nur das: desto mehr lassen ihn selbst seine treusten Freunde allein — aus Zartgefühl, Schamgefühl, Liebe, Ehrfurcht, Verlegenheit, Hochachtung, Scheu, kurz, aus den allerbesten Gründen und mit dem unanfechtbarsten Takt des Herzens.


Man hat nie nur einen Grund zu einer Handlung, sondern hundert und tausend.


Heftige Bewegungen machen alle Tiere scheu. So sollte sich auch der vollkommene Weise im Geistigen jäher Bewegungen enthalten. Im Grunde ist es das Gleiche, wie du an ein Pferd herangehst und sein Zutrauen gewinnst, und wie du an einen Menschen dich wendest und ihn eroberst.


Je ernster ein Kritiker seine Kritik nimmt, desto kritischer wird er seinen Ernst nehmen.


Der Ironiker ist meist nur ein beleidigter Pathetiker.


Viele der Feinsten gehen in sich gekehrt durchs Leben, weil sie es nicht ertrügen, von andern überlegen betrachtet zu werden. Sie fürchten die Verwundung ihres Stolzes, den Verlust ihres Machtgefühls, sie ziehen es vor, in ihren vier Wänden die Ersten zu sein, statt auf dem Markte die Zweiten. Aber manch einen macht solch heimliches Schatzhütertum auch bitter und hochfahrend. 193Immer lauter muß er bei sich Stolz nennen, was im Grunde vor allem Furcht ist, um schließlich, statt der Verschwender, der giftige Drache seines Horts zu werden, der alle Welt ob ihrer Armut verachtet.



Wie nahe Furcht und Mut zusammenwohnen, das weiß vielleicht am Besten, wer sich dem Feind entgegenwirft.


Phantasie ist ein Göttergeschenk, aber Mangel an Phantasie auch. Ich behaupte, ohne diesen Mangel würde die Menschheit den Mut zum Weiterexistieren längst verloren haben.


Was wirkt am innerlich glühenden Menschen nicht übertrieben? Steht er nicht ewig wie unter lauter Großmüttern und Großvätern? Und geht und spricht er drum nicht am liebsten zu — Kindern?


Dieser Brief wäre an Dich gerichtet, von dem ich zehn Jahre nichts mehr gehört noch gesehen habe? O nein, wie wäre das möglich. Er ist an das Bild 194gerichtet, das ich von damals und früher von Dir in mir trage, das ich zwar zu modifizieren versucht habe, aber mit nicht größerem Glück als der Bildhauer, der Deinen Kopf vor 10 Jahren geformt hätte und nun unternähme, die 10 Jahre Veränderung hineinzubringen, ohne das also veränderte Original vor sich zu haben.

Und Dein Brief, meinst Du, wäre an mich gerichtet?

Christian Morgenstern

Christian Morgenstern